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Archiv-Artikel

Das Shangri-La der Popkultur

DOKUMENTARFILM 2 „Wir werden immer weitergehen“ umkreist in Interviews die alternative Musikszene

Einen Mangel an Protagonisten kann man dem Dokumentarfilm „Wir werden immer weitergehen“ von George Lindt und Ingolf Rech nicht vorwerfen. Lindt, der Betreiber der Berliner Plattenfirma Lieblingslied Records, und sein Kameramann fahren eine durchaus repräsentative Menge an Gewährsleuten auf, die über ihr Dasein als Mitglieder der – das Wort klingt gestrig, passt hier aber – „Indie-Szene“ von Hamburg und Berlin berichten. Françoise Cactus und Brezel Göring erzählen, wie sie sich beim Einkaufen kennengelernt und Stereo Total gegründet haben, Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun beschreiben vor Landungsbrücken-Kulisse ihre Ansätze, das „Grauen in der Gesellschaft“ künstlerisch zu bearbeiten, und Christiane Rösinger erklärt, warum sie nicht aufhört, das zu tun, was sie tut.

Von Motivationen, Netzwerken und Finanznöten, aber vor allem von ihrer Arbeit als Musiker, Label-, Plattenladen- oder Clubbetreiber berichten mehrheitlich Männer, die seit meist über zwei Dekaden dafür sorgen, dass Hamburg und Berlin die deutschen Hauptstädte der alternativen Popkultur sind: Alfred Hilsberg, Dimitri Hegemann, Frank Spilker, Alec Empire, Dirk von Lowtzow, Jim Avignon, Carol von Rautenkranz, Nikel Pallat, Mense Reents etc.

Das Problem des Films: Er sagt den Zuschauern lange nicht, wann er entstanden ist und worauf er hinaus will. Aus den Interviews lässt sich nur sukzessive erschließen, dass die Gespräche um 2001 herum geführt worden sein müssen. Worauf Interviewfragen wie „Was machst du so, wie kamst du dazu?“ eigentlich abzielen, wird an keiner Stelle ersichtlich. Erst auf den letzten 20 Filmminuten bemüht man sich schnell noch um Aktualisierung, indem einige der Protagonisten erneut aufgesucht und zu ihrem Status quo vadis befragt werden.

Zweifellos: „Wir werden immer weitergehen“ gelingt es in einer „atmosphärischen“ Aneinanderreihung von Aussagen und Konzertmitschnitten, ein durchaus prägnantes Gefühl für eine vergangene Ära neu zu erzeugen, einen Geruch, einen Geschmack – und so die notwendige Chronistenarbeit für die in den letzten 20, 30 Jahren so lebendigen Szenen zumindest anzustoßen. Aus handwerklicher Perspektive aber bleibt der Eindruck einer späten und dann zu hastig durchgeführten Verwertung von Material eines vor über zehn Jahren geplanten Filmprojekts.

Gefühl für das Vergangene

Zeitgleich mit dem Film erscheint unter demselben Titel aber auch noch ein Buch. Und das Buch macht die Mängel des Films wieder wett. Mit Freude zu lesende, einsichtige Essays, Porträts und Interviews von Susanne Messmer, Dirk Knipphals, Jens Balzer, Kirsten Küppers, Gerrit Bartels, Klaus Walter und vielen mehr umkreisen in einer Mischung aus Analyse und Melancholie Orte und Menschen der Berlin-Hamburger Popsubkulturen von 1985 bis heute.

Da bekommen die Clubs SO36 und Rote Flora ihre Geschichtsschreibung. Da ersteht das St. Pauli der Spätachtziger auf als Shangri-La der Indie-Sophistication, da wird ein wunderbar gut informiertes Biografiepuzzle zum Thema „Altern in den Teenager-Künsten“ veranstaltet. Das vielbesungene Berliner Clubsterben wird einem Realitätscheck unterworfen, der Generationenkonflikt zum Opfer des Mauerfalls erklärt, sowie die Popkultur der Jugend entrissen und als Ressourcenreservoir für alle neu aufgestellt. Dieses Buch feiert das Gestern, ohne dabei das Morgen zu verraten. Angenehm. KIRSTEN RIESSELMANN

■ „Wir werden immer weitergehen“. Buch: Lieblingsbuch Verlag 2012. Film: R: George Lindt/Ingolf Rech, D 2012, 105 Min. Tgl. im Downstairs-Kino im Filmcafé, am 4. 11., 16.45 Uhr, im Moviemento