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Archiv-Artikel

Auftrieb des Klatschviehs

Während des Wahlkampfs bevölkern Claqueure der Parteien die TV-Studios. Sie sind Akteure der Telekratie

Jeder, der einmal ein Fernsehstudio besichtigt hat, weiß: Im Fernsehen wirkt alles viel größer, als es in Wirklichkeit ist. Das trifft für Sabine Christiansens blaue Studio-Kugel am Berliner Breitscheidplatz genauso zu wie für Sabine Christiansen selbst. Was kaum einer weiß: Im Fernsehen sind nicht mal die Zuschauer echt, besonders in Zeiten des Wahlkampfs.

Im Fernsehjargon nennt man die im Studio drapierten Damen und Herren Zuschauer mehr oder weniger liebevoll „Schwenkfutter“, also raumfüllende Dekoration im Schwenkbereich der Kamera, oder „Klatschvieh“. Letzteres ist als akustische Dekoration gedacht und wird in der Regel von der Aufnahmeleitung „angeklatscht“, wenn es aus dramaturgischen Gründen sinnvoll erscheint. Beim Privatfernsehen übernimmt diese Aufgabe der „Warm-upper“, ein professioneller Animateur.

In seriösen Polit-Talkshows wie „Sabine Christiansen“ und „Berlin Mitte“ mit Maybrit Illner gibt es so etwas natürlich nicht. Braucht es auch nicht, denn die eingeladenen Politiker verschiedener Parteien bringen ausreichend Claqeure mit: Telegene Junge-Unions-Recken, freiwillige Wahlhelferinnen, Partei-Angestellte und fanatische Wähler, die für die rechte Stimmung sorgen sollen. In Sachen TV-AgitProp schlecht organisierte Politiker erkennt man daher daran, dass nach ihren Statements nur zwei Menschen klatschen: der persönliche Referent und der Chauffeur.

Sehr anschaulich wurde dies am Dienstag in der Sendung „ZDF-Wahlforum“: Auf die Frage des Moderators, wer der im Studio anwesenden Zuschauer noch unentschlossen ob seiner Wahlentscheidung sei, hoben gerade einmal drei Menschen die Hand. Glaubt man jedoch den Umfragen, sind noch rund 30 Prozent der Wähler schwankend. Die Feststellung des ZDF-Moderators, dass es sich offensichtlich um kein repräsentatives Publikum handele, kann nur bejaht werden: Parteimitglieder wissen natürlich, wo sie ihr Kreuz machen müssen.

Die bislang noch unentschlossenen telekratischen Staatsbürger werden sich jedoch in ihrer Entscheidung nicht von Claqueuren beeinflussen lassen – zumal diese letztendlich proportional im Studio vertreten sind. Die einen klatschen für die SPD, die anderen für die Union – wobei Letztere besonderes Geschick bei der Klatschvieh-Mobilisierung zeigt. Am Ende ist es eben doch der Zuschauer bzw. Bürger, der seine Entscheidung treffen muss. Und dass im Fernsehen nicht alles echt ist, weiß er längst.

MARTIN REICHERT