piwik no script img

Intensive Versuche, kein Idiotenleben zu führen

Jugendliche, deren Leben so mittel ist – kennt man, Coming of Age. Doch dann stülpt Tristan Garcia seinen Roman „Faber“ von innen heraus vollkommen um

Von Dirk Knipphals

Die Geschichte, die zu diesem Buch hinführt, die Geschichte, die in dieses Buch hineinführt, und die Geschichte, die durch dieses Buch hindurchführt – das sind alles, vielleicht kann man diese Besprechung so tastend beginnen, ganz unterschiedliche Geschichten. Etwas dunkel Schillerndes hat der Roman „Faber“ des französischen Schriftstellers Tristan Garcia.

Die Geschichte, die zu diesem Roman hinführt, handelt von einem zweiten Buch desselben Autors. Im Frühjahr dieses Jahres erschien seine philosophische Studie „Das intensive Leben. Eine moderne Obsession“ auf Deutsch im Suhrkamp Verlag. Darin verfolgt Tristan Garcia, der neben seiner Autorentätigkeit Philosophie in Lyon lehrt, wie die Intensität zu einem Ideal des modernen Seins wurde. Er beschreibt einen „Menschentypus, der sich von der Betrachtung und Erwartung eines Absoluten, einer Transzendenz als des letzten Sinnes der Existenz abgewandt hat“. Statt um feststehende Inhalte geht es dem modernen Menschen, so Garcia, im Kern um Erregungen, um immer neue und höhere Ausschläge des Seins, um Intensitäten eben. „Die Intensivierung der Welt, die Intensivierung unseres Lebens. Das ist die große moderne Idee.“

Man muss nicht alles an diesem Buch gutheißen, um es anregend zu finden. Es guckt schon mit dem ganz langen philosophischen Fernglas auf die Welt. Über vieles – Klassen, Systeme, Kulturen – schaut es hinweg. Doch kann man mit seinem Ansatz viele Ambivalenzen unseres modernen Lebens in den Blick nehmen. Wenn Intensität zur Routine wird, ist das ja auch anstrengend. Und doch möchte im Zweifel wohl kaum noch jemand ein nicht intensives Leben führen.

Es geht vollkommen in die Irre, den Roman „Faber“ – im französischen Original erschien er vor dem „Intensiven Leben“ – eins zu eins als Illustration dieser philosophischen Spekulationen anzusehen. Allerdings wäre man ohne das philosophische Buch wohl kaum auf diesen Roman aufmerksam geworden.

Wahrscheinlich wäre er ohne das „Intensive Leben“ auch gar nicht ins Deutsche übersetzt worden. Einen ersten Anlauf, Tristan Garcia in Deutschland bekannt zu machen, machte bereits 2010 die Frankfurter Verlagsanstalt mit seinem Roman „Der beste Teil der Menschen“ – das endete in einem Flop. Es brauchte den Erfolg des „Intensiven Lebens“ und die Möglichkeiten, die der Gastlandauftritt Frankreichs bei der Frankfurter Buchmesse bietet, damit der Wagenbach-Verlag nun mit „Faber“ einen zweiten Anlauf nimmt. Aber diese Rahmenbedingungen vergisst man sowieso schnell, wenn man „Faber“ liest.

Die Geschichte, die in den Roman hineinführt, handelt von Coming of Age. Tristan Garcia, 1981 geboren, erzählt die Geschichte von drei Jugendlichen in mehreren großen Rückblenden von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Sie heißen Madeleine, Basile und Faber und leben in der fiktiven französischen Stadt Mornay.

Im Leben von Madeleine und Basile ist alles mittel – die Größe der Stadt, in der sie aufwachsen, die Einfamilienhäuser, in denen sie leben, die Ambitionen, die sie haben. Madeleine wird Apothekerin, Basile Französischlehrer. An Faber ist alles anders. Er stammt aus einer algerischen Einwandererfamilie – eigentlich heißt er Mehdi –, wurde in einem Pariser Vorort ausgesetzt, dann adoptiert. Seine ersten Adoptiveltern sind früh bei einem Unfall gestorben, er ist ein mathematisches Wunderkind, beherrscht alle möglichen Taschenspielertricks – kein Wunder, dass er Madeleine und Basile aus ihrem Alltagstrott herausholt und ihnen das Gefühl vermittelt, etwas Besonderes zu sein. Über weite Strecken ist „Faber“ auch eine Faszinationsgeschichte. Außerdem befreit Faber seinen Freund Basile auch davor, in der Schule gemobbt zu werden.

Kleine Fluchten in einer Holzhütte. Unverständnis den eigenen Eltern gegenüber. Emotionale Unsicherheiten und Selbstfindungsprozesse. Als Leser richtet man sich zunächst in den Mustern einer Coming-of-Age-Geschichte ein. Coming of Age ist ja sowieso das große literarische Schema unserer Zeit. „Tschick“ ist Coming of Age; die beiden erfolgreichen Epen der Gegenwart – von Karl Ove Knausgård und Elena Ferrante – haben große Coming-Of-Age-Anteile, jeder zweite Debütroman ist Coming of Age.

Das ist mehr als eine Mode. Indem die Autoren ihren Hauptfiguren beim Erwachsenwerden zuschauen, können sie Herkunft beschreiben – und die oft scheiternden Versuche, ihr zu entkommen oder sie wenigstens hinter sich zu lassen. Das zieht einen auch in „Faber“ hinein. Wie die Eltern leben, die Enge einer Mittelklasseexistenz – Tristan Garcia zeichnet nebenbei ein ziemlich ungemütliches Porträt eines heutigen Angestelltenlebens. „Ich war beliebt unter den Kollegen“, sagt Basile an einer Stelle, „im anhaltenden Glauben, anders als sie zu sein, war ich einer von ihnen geworden.“ Und Faber sagt kurze Zeit später zu seinem Vorhaben, kein „Idiotenleben“ zu führen: „Ich habe es versucht, es klappt nicht.“

Tristan Garcia: „Faber“. Aus dem Franzö­sischen von Birgit Leib. Wagenbach, Berlin 2017, 426 Seiten, 24 Euro

Allerdings gibt es beim Lesen von Anfang an Irritationen. Der soziale Absturz, den dieser Faber hinlegt, erscheint zunächst überzeichnet. Jahre hat er einsam in den Pyrenäen gelebt; dreckig, als ein Freak kehrt er in die Stadt seiner Kindheit zurück. Es gibt Briefe, die keinen Absender zu haben scheinen. Zwischendurch tritt mehrmals ein Schüler namens Tristan auf, der eine Art Wiedergänger des jungen Faber zu sein scheint und den man nicht recht einordnen kann.

Irgendwann wandelt sich die Geschichte vollends. Oder, genauer, sie stülpt sich von innen heraus um. Die selbstzerstörerischen Tendenzen, die man bis dahin beim Lesen fast noch aus dem Augenwinkel beobachtet hat, werden schließlich zentral. Einiges von dem, was geschehen wird, sollte man nicht verraten. Nur so viel: Eine unschuldige Coming-of-Age-Geschichte ist es dann nicht mehr. Und: Auch der Versuch, die Geschichte eines anderen Menschen zu beschreiben, erscheint alles andere als harmlos. Im Grunde ist es der eigentliche Gewaltakt.

Mit der Geschichte, die einen durch das Buch hindurchführt, ist es so eine Sache. Manchmal erscheint es fast so, als ob dieser Faber bloß das imaginierte Andere der bürgerlichen Figuren Basile und Madeleine ist. Gleichzeitig stattet ihn Tristan Garcia mit konkreten Realia aus. Er ist Einwandererkind. Und die Rebellion, die er vor dem Hintergrund allgemeiner sozialer Proteste gegen die Rentenpolitik in der Schule anführen wird – er gründet eine „autonome Zone“ –, enthält Anspielungen auf das „Unsichtbare Komitee“ und seinen „Kommenden Aufstand“, der vor zehn Jahren von links-aktivistischen bis in bürgerliche Kreise hinein so starken Zuspruch erhielt.

Gibt es auch eine Geschichte, die aus dem Buch wieder herausführt? Am nachhaltigsten jedenfalls sind die literarischen Manöver des Autors Tristan Garcia. Hier ist einer, der sich nicht festnageln lassen will. Nicht darauf, Philosoph oder Schriftsteller zu sein. Nicht auf seine Figuren. Noch nicht einmal auf seine eigenen Thesen. Und hier sind auch die Intensitäten gelandet. Am meisten Spaß bringt dieses Buch, wenn man es schafft, es beim Lesen in der Schwebe zu halten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen