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Abgrundtief menschlich

THEATER Matthias Mühlschlegel verwandelt Werner Schwabs 90er-Radikalkomödie „Volksvernichtung“ in ein opulent-überdrehtes Spiel über Virtualisierung – verliert dabei aber den eigenen Anspruch aus den Augen

von Katrin Ullmann

Fröhlich summt Frau Kovacic (Karin Bethke) in die Runde: „Jetzt bauen wir eine Entspannung auf in unserer Wohnung.“ Jetzt heiße es endlich abspannen und „den bösen Tag einschläfern“. Dazu gibt es Likör, Bier und ein Tänzchen für die ganze Familie. Für eine Entspannung wird es schließlich auch Zeit. Zuvor wurde „Hamsti“, der Hamster (Andreas Nachtmann in einem gerupften „Cats“-Kostüm) zerquetscht, ist die Vermieterin Frau Grollfreuer (Susanne Stangl) furiendivenhaft durch die Wohnung gerauscht und hat Herr Kovavic (Moritz Grabbe) lüstern an seinen Teenie-Töchtern (Alina Weber als faszinierende Zweigesichtige und Vierbeinige) rumgefummelt und sich dabei vor Erregung in die Hosen gepisst.

In dieser Wohnung – die weiße Wohnzimmergarnitur (Bühne: Luise Zendner) täuscht total – ist das Glück so gar nicht zu Hause. Genauso wenig wie nebenan, bei Frau Wurm (Wiebke Wackermann) und ihrem klumpfüßigen Sohn Hermann (Tobias Schülke). Dieser will ein echter „Graz-Künstler“ werden, verschmiert keuchend Sand, Gedärme und Flips, bevor er in einem Wutanfall seiner verhassten Mutter einen Korkenzieher in den Kopf rammt.

Abgründe und menschliche Untiefen tun sich auf in diesem Mehrfamilienhaus, das Werner Schwab unter dem Titel „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ 1991 als Radikalkomödie verfasste. Es ist eines der bekanntesten Stücke des österreichischen Dramatikers, dessen wildwuchernde Satzgebilde einen neuen, irritierenden Blick auf die Welt warfen. Entsprechend konnten sich Anfang der 1990er-Jahre kaum ein Theater dem Phänomen Schwab entziehen. Innerhalb weniger Jahre verfasste der Grazer Dramatiker 15 Stücke. Die Sprache hatte stets eine Hauptrolle.

„Dem Schwab-Text kann man gar nicht ausweichen“, meint auch Regisseur Matthias Mühlschlegel, der nun die Fassung „Vlksvrnchtng – die Verwirrtualisierung eines Mietshauses (und seiner lieben Mitmenschen“ auf die Bühne gebracht hat. Und zwar in die Halle 3 des Oberhafenquartiers. Mit viel Aufwand und einem großen Künstlerteam hat er dort eine Bühnensituation geschaffen, die dem Zuschauer den klebrig-inzestuösen Mikrokosmos dieses unsympathischen Mietshauses vor Augen führt und zugleich zu verfremden versucht.

Alle seine Darsteller tragen hautfarbene venezianische Gesichtsmasken und stecken in überaus grotesken Kostümen (Ada Oerlein) – von kissengroßer Oberweite bis hin zu grün-rosa Perücken. Meist bewegen sie sich marionettenhaft-mechanisch, manchmal sind ihre Bewegungen mit einem Soundteppich (Andreas Mühlschlegel) unterlegt und immer sind ihre Stimmen schrill verstärkt. Schnell ist klar: Hier ist nicht nur der Hass zu Hause, hier haben sich Hysterie, Überdrehtheit, Horror und Gothic-Kult eingenistet.

Es sind opulente, fast barocke Bilder, die Mühlschlegel erschafft und sie stehen im eigenwilligen Widerspruch zu seinem Regieansatz, dass er das Stück „in den virtuellen und abstrakten Raum einer Zukunftsgesellschaft verlagern“ wolle. Obwohl Schwabs Sprache etwas sehr Körperliches und Extremes habe, begründet Mühlschlegel, „hat diese Welt dennoch etwas sehr Mechanisches an sich“.

Diesen äußerlichen Blick, der über die Sprache auf die Figuren geworfen wird, der habe in ihm die Vorstellung wachsen lassen, „dass es fast eine Art Computerspiel ist, das ich mir da angucke, in dem es Automaten gibt, die da durchrattern und ihre Leben abliefern müssen“. Sicherlich funktionieren Schwabs Figuren als grobe Prototypen, sie erscheinen surreal, programmiert, fremdartig, erschreckend und erschütternd.

Vor allem aber sind sie abgrundtief menschlich. Und hinter den miesen Verhältnissen, in denen sie vegetieren, gibt es auch nicht einen Gedanken an eine ideale Welt. So täuschen Schwabs Stücke einen sozialkritischen Appell nur vor und sind doch voller surrealistischem Humor. Letzteren wiederum erfasst Mühlschlegel. Mit Wucht. Fast zu viel Wucht. Denn vor lauter Spiel- und Bilderfreude, vor – zumal als Produktion der freien Szene – nahezu überbordenden Ausstattungsideen hat er bald seine eigene Ausgangsfrage überrannt: welche Auswirkungen die stetig zunehmende Virtualisierung, Digitalisierung und Maschinisierung der menschlichen Lebenswelt auf den individuellen und gesellschaftlichen Körper hat.

Das ist das eine. Verzeihlich. Das andere und schwerwiegendere Problem dieser Inszenierung ist, dass all diese hysterisierten Bilder, die wilden (Tanz)-Szenen und grotesken Interaktionen versuchen, die Schwab’sche Sprachkunst zu überhöhen und zu verstärken. Wäre nicht notwendig gewesen. Und: schade. Man hört bald nicht mehr richtig zu.

Am Ende, als Verachtung und Hass der Hausbewohner eskalieren, richtet Frau Grollfeuer sie alle mit einem giftgrünen Götterspeisekuchen zugrunde: Diese „Volksvernichtung“ ist die Konsequenz aus Frau Grollfeuers Erkenntnis, dass ihr Versuch, sich „in ein Verständnis hineinzutrinken“ gescheitert ist. Werner Schwab übrigens starb am 1. Januar 1994 – an den Folgen einer Alkoholvergiftung.

Sa, 30. 9. und So, 1. 10., 20 Uhr, Oberhafenquartier, Stockmeyerstraße 41–43

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