Berliner Szenen: Karatemeister
Auf der Liege
Ich komme zu spät zum Hort, um Fup abzuholen. Es ist nur noch die Erzieherin im Aufenthaltsraum. Sie zeigt in die Sitzecke. Fup ist in ein Buch vertieft. Er steht auf, ohne seinen Blick vom Buch zu lassen oder mich zu beachten. Seine Begrüßung ist verhalten, aber er ist nicht sauer, weil ich mich verspätet habe, sondern weil ihn anscheinend das Buch so gepackt hat, das sich bei näherem Hinsehen als „Lustiges Taschenbuch“ entpuppt, mit Geschichten von Donald Duck und Mickymaus.
Egal, denke ich, Hauptsache, er liest überhaupt. Und allemal besser als Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“, aus dem ich ihm gerade vorlese, weil ich dachte, ihn an Weltliteratur heranführen zu müssen, ein schwülstiger Riemen, in dem ständig vom „Gesetz des Dschungels“ und vom Töten die Rede ist und die Affen als faul, unterwürfig und verschlagen beschrieben werden. Auf der Fahrt zum Zahnarzt sieht Fup keine Sekunde auf, sondern nur ins Heft, das bereits auseinanderfällt. Als ich parke, fragt Fup: „Wo sind wir?“ und hebt den Kopf. Dann steckt er seine Nase wieder ins Heft, und ich muss ihn an der Hand in die Praxis führen. Auch auf der Behandlungsliege liest er weiter, falls er liest, während der Arzt versucht, ihm in den Mund zu gucken. Schließlich muss er das Heft mir geben, weil der Arzt sonst nicht arbeiten kann. Fup sagt: „Du musst auf Seite 85 anfangen.“ Okay. „Die Rache des Karatemeisters“ heißt die Geschichte. „Bei Micky ist die Freude groß, weil er grad zog das große Los! So darf er heut bei Dreharbeiten den Filmstar Jan Van Ramm begleiten …“ Ich verstehe. Da fliegen Leute durch die Luft mit viel „UMPF, WUPP, URKS, KLOPS, AUA, AYIIIAH, KRACH“. Inzwischen erzählt Fup dem Arzt, dass er in den Ferien in Paris war. „Toll. Und wie war’s?“, fragt der Arzt. „Wir waren da in einem Hotel, und da gab es ein Tablet!“, sagt Fup selig. Klaus Bittermann
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