piwik no script img

Am Wahlsonntag endet der Sommer endgültig und der Club49 in der Ohlauer straße verliert seinen BetreiberVrische Luft statt Dieselduft

Ausgehen und Rumstehen

von Detlef ­Kuhlbrodt

Der Sommer ist zwar schon vorbei, offiziell endet er erst am Sonntag nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse. Es ist Freitag. Ich besuche meinen alten Freund M. Vor einem Jahr hatte er noch bei seiner Freundin im vierten Stock gewohnt, dann ging es nicht mehr wegen der Krankheiten, die sich angesammelt hatten. Nach diversen Klinikaufenthalten und einem Pflegeheimzwischenstopp wohnt er seit einigen Monaten in einem Hochhaus in der Gitschiner Straße mit schönem Blick über Kreuzberg im siebten Stock.

Wie früher bei Opa

M. zu besuchen ist ein bisschen, wie früher meinen Opa zu besuchen. Man sitzt nachmittags so auf dem Balkon rum – ich muss ja rauchen –, spielt Schach und unterhält sich. M., der Historiker, erzählt von dem Buch eines anderen Historikers, der eigentlich ganz gut gewesen wäre, aber dann zu den Nazis ging, um seine Karriere fortzusetzen. Beim Schachspielen verfallen wir manchmal in Schachblindheit und übersehen das Offensichtliche. Da ich zuletzt eher im Internet Schach spielte, irritiert mich der Blick auf ein echtes Brett.

Ich bewundere M.s Diabetes-Spezialschuhe, die an Skistiefel und die Plateaustiefel aus Glamrockzeiten erinnern. Sie entlasten die Fersen, sodass es wirkt, als ginge man über Wolken. Zum Abschied bittet er mich, ihm nächstes Mal alte Zeitungen mitzubringen, weil die neuen so viel kosten, und kleine Nägel, um das schöne Che-Guevara-Porträt endlich wieder aufzuhängen.

Dann geht’s zum Wahlkampfendspurt auf den Gendarmenmarkt. Ein schöner Spätsommervorabend. Diverse Kulturschaffende sind gekommen, um den Kandidaten zu unterstützen. Die 95-jährige deutsch-israelische Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron etwa, der Entertainer Klaas Heufer-Umlauf (Joko & Klaas) und die Schriftstellerin Eva Menasse. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz möchte, „dass wir den Mut haben, mutig in die Zukunft zu schauen“.

Zwanglose Abstimmung

Mir gefällt, dass er in einem Interview bei YouTube gesagt hatte, er strebe eine fraktionszwanglose Abstimmung im Bundestag über die Freigabe von Marihuana an, und möchte ihn hiermit an sein Versprechen erinnern. Zeitgleich haben sich auch die Grünen im ewerk versammelt. Ich geh da aber nicht hin, weil ich dort schon bei ihrer Abschlussparty vor zwanzig Jahren gewesen war.

Den Club49 in der Ohlauer Straße wird es noch weiterhin geben. Nur der Clubbetreiber Kai hört auf, wie er in Blogeinträgen der letzten Zeit schon angedeutet hatte. Eigentlich ist es an diesem Samstagabend wie immer. Lediglich die Bowie-Single mit dem berühmten „Der Mann, der vom Himmel fällt“-Foto hatte vor zehn Jahren noch nicht hinter dem Tresen gestanden. Ganjaman ist auch wieder am Start, und Graf Tati bittet Kai vor seinem Auftritt, sich alles noch mal zu überlegen, und spielt dann ein paar Bowie-Songs, um den verdienten Kneipier und Fotografen zu ehren. Das Solokonzert mit Gitarre ist super. Tati „GT“ beginnt mit einem Song aus der Spätphase, „I can’t give everything away“. Dann „Where Are We Now“ mit der sehnsüchtig-wehmutsvollen Zeile: „Sitting in the Klub49/Ohlauer Straße/A man lost in time/ Near Robert Kovacs“. Der Sanitärunternehmer, der hier immer sein Weißbier trinkt, ist schon weg. Zum Schluss erklingt „Space Oddity“, und glücklicherweise werden sich die Abschiedsabende für Kai, ähnlich wie beim ewerk-Abschied vor zwanzig Jahren, noch ein bisschen hinziehen. Erst am nächsten Samstag ist Schluss.

Die Parolen der Kleinen

Der Wahlabend am Sonntag ist dann wieder schön und klingt im taz-Café aus. Irgendwie wird man die Parolen der kleinen Parteien bald vermissen. „Vrische Luft statt Dieselduft“ (V-Partei) oder „Du the right thing“ (die Urbane). Während die „Urbane“ in meinem Wahlbezirk 0,4 Prozent Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, brachte es die ­V-Partei auf 323 Wählerinnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen