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Archiv-Artikel

Steckbrieflich wählen

Von Scheren und Bärten: Der erste afghanische Wahlkampf seit 33 Jahren trägt bizarre Züge

Die Symbole auf denWahlzetteln sind wichtig,weil nur jede fünfte Afghaninlesen und schreiben kann

AUS KABUL BERNARD IMHASLY

Die Afghanen haben am Sonntag die schwierige Aufgabe, unter 5.800 Kandidaten jene 669 Abgeordneten zu wählen, die sie in den nächsten fünf Jahren in der Volkskammer und den 34 Provinzräten vertreten werden. Die Wahl ist deshalb so schwierig, weil das Wahlsystem nur Einzelkandidaten kennt und Parteien keine Rolle spielen dürfen.

Eine Fahrt durch die Straßen der Hauptstadt Kabul zeigt das Ausmaß dieser chaotischen Wahl. Alles ist vollgepflastert mit den Plakaten der hier antretenden 617 Kandidaten. Auf den Hauswänden ist viel zu wenig Platz, die Konterfeis klettern Baumstämme und Strommasten hoch, viele Verkehrsschilder sind bis zur Unkenntlichkeit verklebt, Windschutzscheiben von Taxis halten manchmal nur noch die Sicht für den Fahrer frei.

Ohne Wahlkampfgelder, Parteiorganisationen und Programme sind die Plakate für viele Anwärter die einzig mögliche Form von Wahlkampf: „Schaut her, wählt mich!“

Das Verkehrsgewühl in der Innenstadt lässt viel Zeit zum Studium der Gesichter. Zunächst fällt auf, wie unterschiedlich die Finanzlage der Kandidaten zu sein scheint. Einige müssen sich mit schwarzweißen A4-Blättern begnügen, während andere riesige Plakatwände füllen – davon einige mit elektrisch drehbaren Dreieckslamellen, die alle paar Sekunden einen neuen Aspekt des vielseitigen Kandidaten zeigen. Auch ein zwölfstündiger Stromausfall zwischen fünf Uhr morgens und fünf Uhr abends ist kein Problem – am Fuß des Plakatmasts surrt ein kleiner Generator, versehen mit einem Wächter.

Zudem fällt die Bekleidung auf, die Hinweise auf die politische Ausrichtung des Kandidaten geben kann: Die unter dem Namen „Dschihadis“ zusammengefassten Islamisten und Mudschaheddin stehen mit ihren langen Bärten und Turbanen meist in steckbrieflicher Frontstellung da.

Die westlich orientierten Modernisierer mit Krawatte und Anzug drehen dagegen den Kopf wie beim Studioporträt halb über die Schulter, während die Linken mit Weste und offenem Hemd Einfachheit und Klarheit ausstrahlen sollen.

Von Kabuls 84 Kandidatinnen sieht man meist nur das Gesicht, umrahmt vom Kopftuch. Einzig das geschminkte Gesicht von Sabrina Sagheb (siehe Text links) lacht umrahmt vom gelben Schal in Großaufnahme. Sie ist die jüngste der 5.800 Kandidaten und versucht, daraus Kapital zu schlagen: „Eine neue Welt, eine neue Politik, eine neue Hoffnung“ lautet ihr Slogan.

Sabrinas Wahlsymbol sind zwei Häschen. Damit hat sie einen guten Griff getan. Denn um für jeden von Kabuls 617 Kandidaten ein Symbol zu finden, konnte die Wahlkommission nicht wählerisch sein: Kamele tauchen auf den Plakaten auf, eine Axt, eine Kuh, eine Flasche, Kamm, Leiter, Zange, Schere, Kamera, Parkbank, Ölbohrturm, Mobiltelefon, Fernsehapparat. Und weil selbst die unendliche Welt der Dinge begrenzt ist und negative Symbole sich ausschließen, kommt es zu Doppel- und Dreifachbesetzungen: ein Fußball, zwei Fußbälle, drei Fußbälle.

Die Symbole sind wichtig, weil nur jede fünfte Afghanin lesen und schreiben kann. Doch wie sich eine solche Frau in Kabul mit einem Wahl-„Zettel“ von sieben großformatigen Seiten zurechtfinden will, um aus 617 Gesichtern genau jene beiden für Parlament und Provinzrat per Daumenaufdruck auszuwählen, bleibt nach wie vor ein Rätsel.

Der Kandidat, der sich die teuerste Kampagne, die mit den drehbaren Lamellen, leisten kann – sein Symbol ist der Fernsehapparat – weiß denn auch, was der Grund für diese Zumutung ist. Für Junus Kanuni ist das Mehrheitswahlrecht ohne Parteien Teil der Strategie von Präsident Hamid Karsai. „Die Regierung will ein Parlament haben, das nicht aus Parteien besteht, sondern aus Individuen.“ Das wird es dem Präsidenten und seinen (unausgesprochen: amerikanischen) Freunden leichter machen, die einen gegen die anderen auszuspielen. Das Resultat wird fatal sein, sagt Kanuni. Denn „statt dass in Afghanistan eine moderne Parteiendemokratie entsteht, droht ein Rückfall in die alten Identitätsmuster“.

Die Verfassung verbietet politische Parteien nicht, doch sie werden vom Gesetz auch nicht anerkannt. In Afghanistan sind in den letzten beiden Jahren mehr als 70 Parteien ins Kraut geschossen. Die meisten bleiben aber wegen ihrer gesetzlichen Zwitterstellung ohne Profil. So hat Kanuni eine Partei namens Neues Afghanistan gegründet, und kürzlich hat er sich mit 14 weiteren zur Nationalen Vereinigten Front zusammengetan.

Auch die demokratischen Parteien, denen die westlichen Staaten auf die Beine geholfen haben, schauen dem neuen Parlament mit Sorge entgegen. Denn die meisten neuen Abgeordneten haben keine Ahnung, was auf sie in Kabul zukommt. Die letzten Wahlen wurden vor 33 Jahren durchgeführt, damals waren es die vierten in der Geschichte des Landes. Viele Politiker, meint ein Beobachter, denken einfach „an einen Dienstwagen mit Blaulicht und eine Gratiswohnung“.

Am besten werden wohl die linken Politiker mit der neuen Situation zurechtkommen, falls es ihnen gelingt, den Wählerverdacht alter Sowjetverbindungen zu zerstreuen. Sie sind durch lange Jahre im inneren Exil diszipliniert und gut organisiert.

Kanuni selbst lässt sich nicht so leicht in die Kleiderkategorien der typischen Kandidaten zwängen. Sein Empfangszimmer gleicht einem französischen Salon mit schweren Brokatvorhängen und Louis-Toujours-Sesseln. Auf seinen Plakaten wirkt er modern und jung, doch das Geld, mit denen er sie bezahlt, stammt, so meinen viele Beobachter, aus den Kassen der Pandschiris. Das ist die Mudschaheddin-Gruppe, die 2001 mit ihrer Nordallianz Nutznießerin der US-Invasion und des Sturzes der Taliban wurde und in Kabul die Machtpositionen besetzt hat.

Kanuni hat sich als Innen- beziehungsweise Erziehungsminister im Kabinett von Karsai einen guten Namen gemacht. Nachdem er im Kampf um die Präsidentschaft vor einem Jahr gegen diesen verloren hatte, erneuerte er seine alten Pandschiri-Seilschaften, vor allem jene mit Mohammed Fahim. Fahim ist nicht nur „Marschall“ der afghanischen Streitkräfte und Exverteidigungsminister, er gilt auch als typischer Mudschaheddin-Kriegsfürst, der sich mit den neuen Machtverhältnissen arrangiert hat, aber weiter in trüben Wassern fischt – sei es mit Drogen, bewaffneten Anhängern oder dem Koran.

Wenn es einen Mann gibt, der mit offenen Karten spielt – und dennoch ein Rätsel bleibt – so ist es Abdul Rasul Sajjaf. Er ist der Inbegriff des „Dschihadi-Warlords“. Berüchtigt für seinen Beitrag zur Zerstörung Kabuls in den frühen 90er-Jahren, konnte er während der Taliban-Herrschaft seine Machtbasis westlich von Kabul halten. Dazu verhalfen ihm nicht zuletzt die guten Beziehungen zu seinen islamistischen Geldgebern in Saudi-Arabien, die er mit Moscheen und einem frauenfeindlichen Verhaltenskodex in seinem Machtgebiet zufrieden stellte.

Das Gesetz verbietet die Kandidatur von Warlords, und eigentlich gehört Sajjaf ins Gefängnis. Dennoch prangt sein Konterfei überall in Kabul, gerettet durch den Paragrafen, dass nur verurteilte Personen ausgeschlossen werden können. Bisher wurde noch kein Kriegsfürst verurteilt.

Dies gilt gerade für Sajjaf, der das Oberste Gericht mit seinen Anhängern besetzen konnte. Er muss bei deren Ernennung Karsais Unterstützung gehabt haben, ebenso wie bei der Besetzung mehrerer Gouverneursposten mit seinen Anhängern. Beobachter in Kabul rätseln über die Motive des Präsidenten, mit Leuten zu kungeln, bei denen sich nicht die geringste ideologische Verwandtschaft erkennen lässt. Das könnte daran liegen, dass es Karsai in den letzten vier Jahren nicht gelungen ist, trotz massiver Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der Absenz einer organisierten politischen Opposition, seine Macht auszubauen.

Mit dem Parlament muss er nun mit einer potenziellen Herausforderin seiner Macht rechnen, so schwach es auch vorläufig noch sein mag. Im Gespräch macht Kanuni keinen Hehl aus seine Anwartschaft auf den Sessel des Parlamentspräsidenten. Wenn Karsai durch Kabul fährt, bleibt ihm trotz rasenden Tempos und getönter Scheiben das große Plakat Kanunis nicht erspart. Da kann es nicht schaden, ein paar Bundesgenossen zu haben. Auch wenn die Blut an den Händen haben.