Wieder mal nichts Neues im Osten

Der Journalist Uwe Müller bilanziert akribisch die desolate soziale und wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern. Seine Vorschläge für Reformen überzeugen allerdings nicht

Der Osten steht auf der Kippe, und er wird auch den Westen in den Abgrund reißen. Dies wird von der rot-grünen Koalition und den Landesregierungen seit Jahren systematisch verschleiert, um die Bevölkerung in Ost und West ruhig zu halten. Dies zumindest ist die These des Journalisten Uwe Müller in seinem Buch „Supergau Deutsche Einheit“.

Um sie zu belegen, hat der Welt-Redakteur akribisch Zahlenmaterial zum Abbruch Ost zusammengetragen. Er liefert anschaulich und kompakt einen Abriss der DDR-Wirtschaftsgeschichte – angefangen von der Deindustrialisierung der sowjetisch besetzten Zone bis hin zur verfehlten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die im Bankrott der DDR endete.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder, so wird deutlich, ist auch durch den Transfer von Wissen und Tatkraft aus dem Osten ermöglicht worden, wie etwa die Geschichte des Jenaer Optikunternehmens Carl Zeiss illustriert. Dessen führende Mitarbeiter verfrachteten die Amerikaner 1945 in ihre Besatzungszone, damit sie dort neue Unternehmen aufbauten.

Vor allem aber liefert Müller Zahlen, Zahlen, Zahlen, um die Fehler zu dokumentieren, die im wiedervereinigten Deutschland gemacht worden sind: von der zu raschen Lohnangleichung bis zum künstlichen Bauboom. Das ist nützlich und anregend – und widerspricht in der soliden Argumentation dem reißerischen Titel des „Supergaus“.

Dass das bisherige Scheitern des Aufbaus Ost verschleiert werde und Lösungen mutwillig verhindert würden, kann der Autor jedoch trotz all seiner Materialfülle nicht belegen. Kein Wunder, denn die Mecklenburger oder Sachsen wissen doch längst, wie es um ihre Städte und Regionen steht; ihre Landesregierungen könnten das gar nicht verhindern. Zudem ignoriert Müller die politischen Initiativen, der demografischen und ökonomischen Krise Herr zu werden. Nichts von den Bemühungen und Konzepten, auf dem sich leerenden Land den öffentlichen Nahverkehr oder Schulen zu erhalten oder eine Förderpolitik umzusetzen, die rigoros nur noch in Standorte mit Zukunft investiert.

Doch getreu seiner Kapitelüberschrift „der Fehler ist das System“ befasst sich Müller nicht mit derlei Kleinigkeiten, sondern macht stattdessen eigene Vorschläge, wie die Misere zu beheben sei: Er formuliert einen Katalog von sechs Maßnahmen, mit denen Ostdeutschland saniert werden könnte. Sein Motto lautet „mehr Freiheit für die Industrie“. Die Gewerbesteuer will der Autor herabsetzen, das Arbeits- und Genehmigungsrecht liberalisieren, die öffentliche Hand mit einem rigorosen Sparzwang belegen. Immer nachdrücklicher wird im Laufe des Buches die These vorgetragen: der richtige Weg aus der Krise liege offen vor uns, nur die uneinsichtige Politikerkaste erkenne ihn einfach nicht.

Das macht das Werk unseriös. Denn so einfach, wie Müller sie darstellt, ist die Welt auch im Osten nicht. Müller will etwa jene ostdeutschen Länder, die ungenügende Sparbereitschaft zeigen, disziplinieren, indem ihnen Zuweisungen gestrichen und Strafgebühren auferlegt werden. „Dies könnte zugleich helfen, die oft überzogene Anspruchshaltung der Bevölkerung gegenüber dem Staat zu begrenzen“, hofft der Autor. Nur: Was genau meint er damit? Soll das vorbildliche Angebot der Kinderbetreuung reduziert werden? Der Ausbau der vielerorts immer noch unzureichenden Infrastruktur eingestellt werden? Müssen noch mehr Theater und Orchester sterben? Um konkrete Vorschläge allerdings drückt sich der Journalist.

Andere Anregungen Müllers hingegen sind längst umgesetzt – und haben ihre Wirkung verfehlt. So erhalten Unternehmen, die Standorte in den Osten verlagern, schon jetzt umfänglich Subventionen – um nichts anderes handelt es sich bei der Halbierung der Gewerbesteuer. Die Jobmisere ist damit bislang nicht behoben worden.

Letztlich liefert Uwe Müller zwar eine treffende Beschreibung der Lage im Osten. Aber einen Weg für die Zukunft kennt auch er nicht.

HEIKE HOLDINGHAUSEN

Uwe Müller: „Supergau Deutsche Einheit.“ Rowohlt, Hamburg 2005, 12,90 Euro