Der Kunstableger

Ein sehenswerter, freilich subjektiver Kunst-Querschnitt solitärer Werke: In Kassel versucht Kurator Michael Glasmeier über zwei Ausstellungskonzepte „50 Jahre documenta 1955–2005“ zu fassen

Zwischen Erinnerung und Erwartungen bleibt die documenta ein weiterhin offenes Projekt

VON HAJO SCHIFF

Die documenta hätte die hessische Regionalpolitik am liebsten viel öfter als alle fünf Jahre zu Gast. Ist doch der Kulturtourismus zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der überschuldeten Kommunen geworden. Aber die aktuell mit dem Namen documenta werbende Ausstellung in Kassel bloß darauf zurückzuführen wäre falsch: Es macht schon Sinn, sich die vor 50 Jahren gestartete Erfolgsgeschichte der documenta zu vergegenwärtigen. Denn die Begleitveranstaltung zur Bundesgartenschau von 1955 wurde zu einer Institution, die mit höflicher Zurückhaltung zumindest als die zweitwichtigste regelmäßige Kunstausstellung der Welt zu bewerten ist. Das hatte sich der Gründervater Arnold Bode für sein „Museum der hundert Tage“ nicht träumen lassen. Und doch war sein Konzept so visionär, dass es bis heute allen Kuratoren, wenn auch in unterschiedlichem Maße, als Bezugsgröße dient.

Was aber in Kassel derzeit in kokett genau 100-tägiger Laufzeit versucht wird, ist an sich vollkommen unmöglich: Eine Ausstellung soll elf vorausgegangene internationale Großausstellungen aus einem halben Jahrhundert zusammenfassen. Unter der offen vorgetragenen Entschuldigung über diese Unmöglichkeit, wird sie in einem fünfteiligen Konzept dennoch angestrebt: Das Filmprogramm der ersten documenta wird zur Wiederaufführung gebracht, die insgesamt zehn in Kassel vor Ort verbliebenen Kunstwerke werden erneut ins Bewusstsein gerückt, eine Tagung wird veranstaltet, und die Kunsthalle Fridericianum zeigt zwei Ausstellungen.

Die beiden Dokumentationen im unbestrittenen Hauptspielort aller documenta-Ausstellungen sind ganz und gar unterschiedlich. Zum einen gibt es elf Kojen, in denen nach einer klaren Vorgabe die elf Ausstellungen vorgestellt werden: Jeweils eine Einführung, eine Fotowand, Reproduktionen von Archivalien wie Flugblättern und Plakaten, ein Monitor mit dokumentarischem Filmmaterial und dazu kommentierend und aktualisierend je ein heutiges Auftragskunstwerk, das sich mit einem Thema der jeweiligen documenta befasst.

Zum anderen gibt es im ganzen Obergeschoss des Fridericianums eine kuratierte Präsentation mit Arbeiten von 82 documenta-Künstlern. Das sind, der Vorrang der Statistik vor der Qualität sei entschuldigt, etwa 4 Prozent der insgesamt 2.000 dort bisher gezeigten Künstlerinnen, Künstler und Künstlergruppen. Es ist also völlig klar, dass die Auswahl des Bremer Kunstgeschichtsprofessors Michael Glasmeier einigermaßen subjektiv ist. Seine Idee war es dabei, so etwas wie eine Schau der Nebenlinien zusammenzubringen, Positionen zu zeigen, die weniger im Gedächtnis haften blieben als die unwiederbringlichen, spektakulären Großprojekte wie der „Vertikale Erdkilometer“ auf dem Friedrichsplatz oder die zeit- und raumgreifenden Arbeiten von documenta-Dauerkünstler Joseph Beuys. Denn längst nicht jede Teilnahme an einer documenta hat ewigen Ruhm zu Folge. Auch hat die Besonderheit der documenta, immer wieder auf im Kunstbetrieb sonst periphere Medien aufmerksam zu machen, Zeichnung und Multiples, Film, Hörspiel und dem Vortragsmarathon eine Plattform zu bieten, bisher wenig Auswirkungen auf die sonstige Ausstellungspraxis, sieht man von der Durchsetzung von Video und Fotografie einmal ab.

Michael Glasmeier stellt seine Auswahl von 225 Arbeiten von Ida Applebroog bis Wols unter das Motto der „Diskreten Energien“. Herausgekommen ist dabei ein durchaus sehenswerter, wenn auch nach eher vagen Kriterien gruppierter und sehr persönlicher Kunst-Querschnitt solitärer Werke, der weit mehr als die letzten fünfzig Jahre umfasst. Denn da die erste documenta die von den Nazis verdrängte und verfolgte Moderne rückwirkend wieder in ihr Recht einsetzen wollte, beginnt auch hier der Rückblick bereits bei Paula Modersohn-Becker mit einem „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“ von 1906. Selbst Votivbilder des 19. Jahrhunderts gelangten als Reverenz an das auf der d 5 erstmals präsentierte Thema der populären Bildwelten in die aktuelle Auswahl. Als zeitlich jüngste Positionen finden sich dann aus 2002 der eindringliche Ostafrika-Film „Out of Blue“ von Zarina Bhimji und die psychotische Dreifachprojektion „The House“ von Eija-Liisa Ahtila.

Während beispielsweise die große, 1957 entstandene surreal-beängstigende Skulptur „Thronoi“ von Karl Hartung eindrücklich in der zentralen Rotunde präsentiert wird, entziehen sich andere Werke den Besuchern geradezu. So sind ohne Kenntnis des damals revolutionären performativen Einsatzes, auf den in dieser Ausstellung nichts hinweist, die 1968 entstandenen Objekte der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark nahezu unverständlich. Immerhin wurde bei der auf der d 5 sehr beeindruckenden Installation „Ark, Pyramid“ von Paul Thek auf das Herzeigen peripherer Teile verzichtet und ausnahmsweise eine kurze dokumentarische Filmsequenz in die Auswahl übernommen. Am besten funktioniert der Doppelanspruch von Musealisierung und Aktualisierung bei dem „Documenta Wax Museum“ von Guillaume Bijl: Gründer Arnold Bode, Kurator Jan Hoet und Künstler Joseph Beuys als historisch eingefrorene „Tableau vivantes“ wurden allerdings nicht für diese Ausstellung gemacht, sondern für die d IX 1992.

Diese Beispiele zeigen, dass die Ausstellung der Originale durchaus von der Dokumentation im Erdgeschoss des Fridericianums mitgetragen wird. Deren elf Kabinette sind so etwas wie die hübsch arrangierte Spitze des Eisbergs des seit 1961 eigenständigen „documenta Archivs“ der Stadt Kassel, inzwischen eines der größten Archive zeitgenössischer Kunst in Deutschland. Und eingeräumt passt die ganze Archiv-Ausstellung gut in einen Container – und das muss sie auch, denn dieser Teil wird auf eine mehrjährige Ausstellungstournee bis nach Neuseeland gehen. Als deutsches Vorzeigeprojekt wird sie deshalb auch von der ifa, dem Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart gefördert, sicher auch mit dem Nebeneffekt, für die nächste, die zwölfte documenta zu werben.

Deren designierter Leiter, Roger M. Buergel, ist bei diesem Jubiläumsprojekt auch schon präsent. In seinem Text für den Katalog bekennt er seine Bewunderung für die allererste documenta und gibt somit den Spekulationen über die Gestaltung der Schau 2007 eine interessante Richtung vor. So bleibt zwischen Dokumentation und Erinnerung, zwischen Erwartungen und Ansprüchen die documenta ein intensiv herausforderndes, offenes Projekt. Ein Projekt, dem zum 50. Geburtstag Diskussionen und Publikationen gut anstehen, das sich in seinen zahlreichen Facetten, besonders auch in seinen kunstpolitischen Positionierungen und Wirkungen, einer Meta-Ausstellung aber doch eher entzieht.

Bis 20. November, Katalog (Steidl Verlag) 38 €; 27.–30. Oktober: „documenta zwischen Inszenierung und Kritik“, Tagung der evangelischen Akademie Hofgeismar