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Archiv-Artikel

Passable Noten in Geschichte

Am Ende von Rot-Grün (VI): Im Umgang mit historisch heiklen Themen agierte Kanzler Gerhard Schröder abgesehen von einigen Peinlichkeiten angemessen und reflektiert

Joschka Fischer beging in der Debatte über denKosovo-Krieg den übelsten FauxpasDie Weigerung, Truppen gegen den Irak zu schicken, eröffnet eine historische Chance

Wer hierzulande regiert, hat es schwerer als in anderen Staaten gleicher Größenordnung. Er muss eine zusätzliche Last tragen: die der Geschichte. Die völkerrechtliche Souveränität und der Umgang damit in der EU oder im atlantischen Bündnissystem bereitet allen Staaten dieselben Probleme – außer den USA, wo Souveränitätsfragen als Machtfragen jenseits von Verfassungsrecht und Völkerrecht gelten. Deutsche Regierungen müssen aber außer Souveränität, Völkerrecht und handfeste Interessen immer auch die Vergangenheit mit in ihr Kalkül einbeziehen.

Das hat nichts mit Selbstgeißelung oder von außen aufgezwungenem Dauerbüßertum zu tun, wie Deutschnationale von Hohmann bis Walser meinen. Demokratische Selbstachtung, rechtsstaatliche Selbstverpflichtung und politisch-moralische Verantwortung gebieten, Rücksicht zu nehmen auf die Erfahrungen, die das eigene Land und andere Völker mit „den“ Deutschen gemacht haben. Einen deutschen Sonderweg gibt es nicht, die Sonderverpflichtung aus historischen Gründen aber schon.

Wie sieht die Bilanz der rot-grünen Regierung in Bezug auf diese heikle Aufgabe aus? Durchwachsen.

Ein paar Monate nach der Regierungsübernahme trat Gerhard Schröder zusammen mit Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft am 16. Februar 1999 vor die Presse und gab bekannt, dass die überlebenden Zwangsarbeiter entschädigt werden sollten. Unter dem Druck der Regierung kam es im Juli 2000 zum Berliner Abkommen, das Staat und Wirtschaft in die Pflicht nahm.

Gegenüber der Kohl-Regierung, die 16 Jahre lang nach der schäbigen Devise handelte, nur keine „Begehrlichkeiten“ zu wecken, war das – bei allen Peinlichkeiten während der Verhandlungen – ein respektables Ergebnis. Auch für die Entschädigung verfolgter Homosexueller fand der Bundestag eine Lösung. Und das Holocaust-Mahnmal, für Kohl bloß eine Imagefrage, steht jetzt – auch wenn es Schröder ungeschickter Weise als einen Ort bezeichnete, „an den man gerne hingeht“.

Das Auswärtige Amt war nach 1945 das mit am stärksten von Nazi-Seilschaften geprägte Ministerium. Joschka Fischer lässt diesen Sumpf jetzt endlich von einer Historikerkommission untersuchen. Die Quittung dafür bekam er postwendend. Der Volmer-Erlass „In dubio pro libertate“ („im Zweifel für die Freiheit“) war handwerklich etwas dilettantisch und hat – unbeabsichtigt – auch Menschenhändlern und Zuhältern geholfen. Doch nur ein von Ressentiments gegen „1968“ befeuertes Denken kann gegen die Reisefreiheit einwenden, sie habe „nicht die Freiheit des eigenen Gemeinwesens, […], sondern die Freiheit anderer“ im Visier, wie Henning Ritter in der FAZ schrieb (2. 9. 2005). Außerhalb des vernagelten deutschen Konservatismus meint man mit „Freiheit“ nicht nur die „Freiheit“ von Blockwarten, Revierförstern und Grenzpolizisten.

Zwar entfielen dem vor Selbstbewusstsein fast platzenden Kanzler in der Cohiba-Brioni-Basta-Phase seiner ersten Amtszeit auch Sätze, die man im Ausland als deutsche Überheblichkeit registrierte. Aber aufs Ganze betrachtet agierte Schröder geschichtspolitisch richtig, das heißt reflektiert und zurückhaltend. Zuletzt war das der Fall im Umgang mit dem hybriden Prestigeprojekt der Berufsvertriebenen, ausgerechnet in Berlin ein Mahnmal zu errichten.

Außenminister Joschka Fischer, der die politisch-moralische Verantwortung für das, was im Namen von Deutschen vor und während des Zweiten Weltkriegs angerichtet wurde, wie eine Monstranz vor sich her trägt, beging den übelsten Fauxpas. Während Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Januar 1999 von einem Hufeisenplan der serbischen Truppen schwadronierte wie vier Jahre später US-Außenminister Colin Powell von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, entschied sich Fischer für einen geschichtspolitisch unterlegten Angriff: „Vom deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen, ist eine historische Begründung des Pazifismus. Nie wieder Auschwitz ist die historische Mahnung, den Anfängen eines möglichen Völkermords zu wehren. Das ist für mich – ohne damit die Katastrophe im Kosovo mit Auschwitz im entferntesten gleichzusetzen – einer der Gründe für meine Haltung“ (Die Zeit, 16. 1. 1999). In der Bundestagsdebatte gebrauchte Fischer jedoch die Chiffren „Auschwitz“ und „Srebrenica“ im gleichen Atemzug, ohne die Größenverhältnisse der beiden Verbrechen klarzustellen. Das ist, milde gesagt, gedankenlos. Tatsächlich ist das eine infame Instrumentalisierung des Mordes am europäischen Judentum.

Über die Frage, mit welchen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln ein Völkermord vermieden oder beendet werden soll, muss man diskutieren. Aber das tat Fischer nicht. Er benutzte „Auschwitz“ und „Srebrenica“ im Handgemenge als rhetorische Keulen, um gerade nicht über die völkerrechts- und grundgesetzwidrige Intervention der Nato-Truppen in Serbien und im Kosovo im Frühjahr 1999 reden zu müssen. Die konservative Presse begrüßte den demagogischen Schwenk, mit dem Fischer die Grünen am 13. Mai 1999 auf dem Sonderparteitag in Bielefeld kriegsreif predigte, als bestandene Reifeprüfung. Seither ist das talkshowmäßige Reden über Krieg aus Selbstermächtigung und Mittel der Politik wieder salonfähig geworden. Im Unterschied zu Scharping und Fischer hat sich Colin Powell für seine Propaganda-Show entschuldigt und sie als „Schandfleck“ bezeichnet.

Ob es der sprichwörtliche politische Riecher war oder bloß ein Wahlkampfkalkül, ist unerheblich. Schröders und Fischers Entscheidung, keine deutschen Truppen in den völkerrechtswidrigen Präventivkrieg gegen den Irak zu schicken, war mehr als politisch richtig. Die Tatsache, dass Frankreich und Russland mitzogen, verleiht der Weigerung, am kriegerischen Abenteuer teilzunehmen, zugleich eine historische Dimension. Dahinter steckt auch die gemeinsame geschichtliche Erfahrung. Dass ein paar europäische „Willige“ bei der Desperadopolitik unter der verlogenen Parole „Krieg gegen Terrorismus“ mitmachten, vermindert das Verdienst von Schröder/Fischer, Chirac und Putin nicht. Sie haben erkannt, dass der die UNO-Charta, das Völkerrecht und das Kriegsrecht verletzende, imperiale Auftritt der USA zu einer Gefahr geworden ist und zugleich eine Chance birgt: Die USA werden spätestens unter Bushs Nachfolger geschwächt und beschädigt aus dem Irak abziehen. In der Zwischenzeit können die europäischen Staaten ihre Chance nutzen, um die wirtschaftliche und politische Integration des Kontinents zu forcieren, die Nato zu einer funktionierenden militärischen Verteidigungsgemeinschaft auszubauen und die UNO zu stärken.

Wer für diese historische Chance die Kinderschreckparole „Antiamerikanismus“ bereit hält, vergisst, dass sich Vasallen befreien, indem sie den Herren die Gefolgschaft aufkündigen.

RUDOLF WALTHER