Ignorante und konformistische Schafe

Tanz Ein Festival gibt es nicht ohne sein Publikum. Das gilt auch für den gerade zu Ende gegangenen „Tanz im August“. Aber wer sind wir eigentlich für die Choreografen? Die beste Antwort gab Eszter Salamon

„Wie sehr verändert uns das, was wir lernen, und inwieweit verändern wir den Inhalt des Gelernten?“ Eszter Salamons „Monument 0.4“ Foto: Lisa Rave

von Astrid Kaminski

Wer ist eigentlich das Publikum? Im Theater zunächst einmal eine stillschweigende und still sitzende Masse, die nur nach Aufforderung spricht oder in Bewegung gebracht wird. Erstaunlich, wie wenig sich daran geändert hat bei allem, was in den letzten Jahren ausprobiert wurde, um die Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum infrage zu stellen. Dazu gehören immersive Experimente, das Einbeziehen der Besucher*innen in eine Fiktion, als (re)aktiv Handelnde in partizipatorischen Choreografien, etwa unter Verwendung von Systemaufstellungen oder anderen der empirischen So­zialforschung entlehnten Methoden, oder das Choreografieren des Publikums als Schwarm, der durch inszenierte Impulse in losen, aber kalkulierten Formationen durch ein räumliches oder situatives Geschehen geleitet wird. Die Performancetheoretikerin Ana Vujanović spricht von einer „Organisation von Erfahrung“, die das postdrama­tische Theater inzwischen ablöse.

Das Ritual des äußerlich passiven Rezipierens aber scheint, das zeigt die nun zu Ende gegangene Ausgabe von „Tanz im August“ ein weiteres Mal, durch diese Entwicklungen nicht angreifbar zu sein. Stoisch werden gute wie schlechte Theaterstunden ausgesessen, bis zum erlösenden Moment des stürmischen Applauses oder Nach-Hause-Rennens.

Weitertrotten

Die Performer*innen um den Choreografen Marcelo Evelin lassen die oft verzerrte, überspannte Bewegungssprache des japanischen Butoh zur plumpen Imitation von Spasmen gerinnen. Warten, bis es vorbei ist. Die Rock-Folklore-Band um die Flamenco-Erneuerin Rocío Molina durchpulst ihre Fans mit Rhythmen, die sich kaum mehr rein akustisch verarbeiten lassen. Sich zwingen, in den Stühlen zu bleiben.

Die Grande Domina La Ribot pfercht das Publikum in einen dunklen Raum mit lauten Clubbeats, um sich durch symbolische Häutungsszenen tumultartige Aufmerksamkeit zu sichern. „Pst“, artikuliert ein fanatischer Jünger mit aufgeregtem Körpereinsatz in Richtung zweier außerhalb des Tumults in einen den Beat keinesfalls übertönenden Wortwechsel Verfallener.

An anderer Stelle lässt uns La Ribot (der das Festival eine in Berlin längst überfällige Werkschau widmete) wie Schafe um den Futtertrog ihrer szenischen Objektbelebungen trotten. Klar, dass das Futter nicht für alle reicht. Weitertrotten. Sind wir Masse? Subjekte? Haben die Performerinnen das für uns geklärt? Haben wir das für uns geklärt?

Im Magazin des Festivals (ein Sammelsurium von Interviews und Porträts, das kaum unter „kuratorischem Publizieren“ durchgeht) heißt es in einem Beitrag über die Kriegstänze der Choreografin Eszter Salamon: „Das Publikum wird mit seiner eigenen Ignoranz und seinem Konformismus konfrontiert, die stets miteinander einhergehen.“ Ignorant und konformistisch, das ist zumindest mal eine Ansage. Vereinigte Performer*innen der Welt, läutert uns!

Bei Eszter Salamon findet sich dann jedoch der interessanteste Ansatz, die Rolle des Publikums auszuloten. Über zwei Etagen der Galerieräume des Neuköllner „Kindl – Zen­trum für zeitgenössische Kunst“ lässt sie unter dem Titel „Monument 0.4: Lores & Praxes (a ritual of transformation)“ Aneignungen von Kriegs- und Kampftänzen performen. Nicht nur in der Genese, sondern auch räumlich und organisatorisch werden Fragen der Gemeinschaft, des Schwarms, der Differenz, der Begegnung, der Vereinzelung sowie der Gleichzeitigkeit der Phänomene einbezogen.

„Monument 0.4“ baut auf „Monument 0“ auf, einer Bühnenversion von ­Kriegstänzen aus aller Welt, die von den Tän­ze­r*in­nen nach Video- und Fotomaterial eingeübt und danach in verschiedenen Schritten für den Galerieraum adaptiert wurde. Die Choreografin Eszter Salamon, die selbst mit traditionellen ungarischen Tänzen aufwuchs, umschifft darin, entgegen der aktuellen Tendenz, geschickt Fragen von Enteignung und Aneignung im Sinn einer postkolonialen Sicherung von immateriellem Kulturgut. Vielmehr wird an die selektive ­Vereinnahmung von populären Kulturen durch die Kunstpraxis angeknüpft, indem sie, kritisch beobachtet, fortgesetzt wird. Nicht ein vorhybrider ­Zustand wird angestrebt, sondern die Vervollkommnung der Hybridisierung als bewusster Prozess. „Wie sehr verändert uns das, was wir lernen, und inwieweit verändern wir den Inhalt des Gelernten“, das ist die zen­tra­le Frage von „Monument 0.4“, die in den immer wieder entstehenden intimen Momenten von Tän­ze­r*in zu Besucher*in wandert.

Die Interaktionen zwischen Performer*innen und ­Publikum sind bei Salamon Manierismen. Das Gegenüber wird zwar adressiert, erhält aber keine Handlungsmacht. Egal wie es reagiert, geht es im Score weiter.

Gemeinsames Fleisch

Ein Performer* streicht über meinen Körper und sagt, ich solle mir den Raum als unser gemeinsames Fleisch vorstellen, ein anderer treibt seine Knie in meine Kniekehlen und stößt mich vor sich her. Meist aber werden Einzelne für kurze oder längere Monologe zur Seite genommen, während das Geschehen in Form von Derwischtänzen, energetischen Selbstverteidi­gungszeremonien, Kasteiungen, gruseligen Entkörperungen oder spielerisch aufmüpfigen Duellen weitermäandert.

Nicht ein vorhybrider Zustand wird angestrebt, sondern die Vervollkommnung der Hybridisierung

Irgendwo scheint immer ein Echo zu folgen, irgendwo etwas parallel stattzufinden. Ich folge meinen Interessen, der Gruppe, manchmal auch der Trägheit des Bleibens, klüngele mit Bekannten zum kurzen Erfahrungsaustausch und beobachte mich durch die mal mehr, mal weniger einleuchtenden Intimitäten, denen ich mich vor der Gruppe stellen muss, selbst. Dass dieses Aufmerksamkeitsgewebe funktioniert, dafür sorgen die neben La Ribot und Dorothée Munyaneza besten Performer*innen des Festivals: Liza Baliasnaja, Sidney Barnes, Mario Barrantes Espinoza, Boglárka Börcsök, Nick Coutsier, Stefan Govaart, Cherish Menzo, Sara Tan, Louise Tanoto und Tiran Willemse.

„Monument 04“ steht exemplarisch für die Frage nach der Rolle des Publikums im entgrenzten Bühnenraum Pate. Das ist die Stärke dieser scheinbar bewusst konventionell und weniger auf diskursaffines Pu­blikum angelegten Ausgabe von „Tanz im August“ unter Virve ­Sutinen: Sie schafft es, Tanz­tra­di­tio­nen, Zugänglichkeit und das Ausloten aktueller Ästhetiken zu vereinen.

Dafür steht auch Trajal Harrells soundsovielte Vogueing-­Variante „Caen Amour“, die einerseits den schon etwas übersäuerten, sich aber trotzdem noch nicht durchgesetzt habenden Exotismusdiskurs noch einmal durchexerziert, sich andererseits für alle, die es schon verstanden haben, mit einer genialen Idee rettet: Das Publikum darf zwischen Backstage und Bühne zirkulieren. Es erlebt einige Kleiderwech­sel mit, befindet sich dabei aber in einer inszenierten und zur Ausstellung erhobenen Künst­le­r*in­nen­gar­de­ro­be einschließlich beachtlicher Best-of-billig-Cornflakes-Vorräte (ein ironischer Kommentar zu der Tatsache, dass Gastkompanien oft nicht mehr als einen Tag haben, um sich auf der Bühne einzurichten).

Überraschendes gelingt auch Rudi van der Merwe. In „Trophée“ lässt er drei Tänzer*innen auf einem Spandauer Feld wie abgeworfene Fallschirme am Horizont erscheinen. Weiße Handschuhe und Masken wirken von fern wie Markierungen, auf die der Blick des Jägerpublikums gerichtet ist. Je näher die reifrockbehangenen Gestalten kommen, desto mehr erzählen sie ihre Geschichte – einer Landnahme, die mit einem Soldatenfriedhof endet. Schauen wir anfangs wie ein kampfbereites indigenes Volk auf die Eindringlinge und werden, nachdem wir ausgelöscht sind, als Europäer wiedergeboren, die ihre Weltkriegstoten ­verscharren? Ein ambivalentes Perspektivspiel mit vielen offenen Fragen, aber ästhetisch starken Mitteln.

Die Publikumsperspektive ist nur eine der ästhetischen Fragestellungen, für die das Festival mit seinen überwiegend soliden Produktionen Angriffsfläche bietet. Im kuratorischen Rahmen gepflegt wird jedoch, das ist die Schwachstelle dieser Ausgabe, kein einziger der möglichen Diskurse. Sie wirkt wie ein bunter Fächer, dessen Bezüge untereinander so lose gestrickt sind, dass alles, was zu klären ist, zwar vorhanden ist, aber nicht aufeinander losgelassen wird.