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„Sie sind alle Iphigenie“

Syrien Mohammad Al Attar, Regisseur aus Syrien, stehen zwei Premieren in Berlin bevor, im Haus der Kulturen der Welt und an der Volksbühne. Ein Gespräch über Verlust, Diaspora, Erzählformen und Erinnerungsarbeit

Er würde lieber zu Hause in Damaskus inszenieren: Mohammad Al Attar Foto: Giorgia Fanelli

Interview Tom Mustroph

taz: Herr Al Attar, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann. Am 30. September kommt im Hangar des ehemaligen Flughafens Tempelhof unter der Ägide der neuen Volksbühne ihre „Iphigenie“ mit syrischen Performerinnen heraus. Zuvor zeigt das Haus der Kulturen der Welt ab 21. September Ihre Erzählperformance „Aleppo. A Portrait of Absence“. Ergänzen sich diese Projekte zu einer Großerzählung über Syrien heute?

Mohammed Al Attar: Ehrlich gesagt hätte ich lieber nicht an beiden Projekten parallel gearbeitet. Aber es handelt sich beide Male um große Institutionen, die ihre eigenen Zeitpläne haben. Und da passen wir uns eben an. Die beiden Projekte sind thematisch, ästhetisch und organisatorisch aber sehr unterschiedlich. Wir proben sie auch in abwechselnden Blöcken. Das funktioniert ganz gut so.

Die Neugier, aus künstlerischer Perspektive etwas über Syrien zu erfahren, was über Krieg und Terror hinausgeht, ist sehr groß. Verspüren Sie so etwas wie eine Welle, die syrische Künstler jetzt auf die Bühnen bringt?

Ich habe diese Situation ja nicht freiwillig gewählt. Ich habe mein Land verlassen müssen. Wenn es nach mir ginge, würde ich in Damaskus leben und von dort aus meine Arbeiten in die Welt bringen. Ich hatte natürlich Glück, dass ich relativ früh herauskam und erst in Beirut und jetzt in Berlin arbeiten konnte. Aber Theater habe ich immer als ein Instrument begriffen, um die Realität zu dekonstruieren. In den letzten Jahren ist der Aspekt hinzugekommen, Widerstand zu leisten gegen das überwältigende Gefühl der Verzweiflung und gegen die politische Unterdrückung.

Ihr Stück über Aleppo, das auf Interviews beruht, nennen Sie „Ein Porträt der Abwesenheit“. Was fehlt? Wer wird vermisst?

Für die Menschen aus Aleppo, die wir befragt haben, geht es darum, die komplexe Geschichte dieser Stadt wieder ins Bewusstsein zu bringen. In Aleppo lebten neben den arabischen Muslimen, die die Mehrheit darstellten, große Gruppen von Assyrern, Armeniern, Kurden und Christen, die sich ihrerseits in Orthodoxe, Katholiken und Protestanten aufteilten.

Wie wollen Sie die Stadt erzählen?

Wir haben unsere Interviewpartner zu einem übergreifenden Thema befragt: einem für sie bedeutsamen Ort in der Stadt. Das waren nicht die Sehenswürdigkeiten wie die Festungsanlage oder das Nationalmuseum, sondern eher unspektakuläre, individuell bedeutsame Orte, die dennoch die Geschichte dieser Stadt und ihre historischen Schichtungen widerspiegeln. Uns geht es dabei vor allem um Emotionen, um Subjektivität, die all das sichtbar macht.

Welche Orte wurden ausgewählt?

Ein Universitätsprofessor Anfang 50 baute ein Haus in einem eher vernachlässigten Viertel der Altstadt zu einem Kulturzentrum aus. Bei der Renovierung des Hauses legte er Schicht um Schicht der alten Besiedlungen der Stadt frei. Und zugleich war für ihn, der aus der Mittelschicht kommt und in einem ganz anderen, reicheren Stadtviertel wohnt, der Kontakt mit seinen neuen Nachbarn wie die Entdeckung einer Stadt, die er vorher nicht kannte. Ein anderer Mann, jünger als er, erzählt sehr eindrücklich von einem Kaffeehaus, über das er die Stadt kennenlernte und in dem er sich auch politisch bildete. Ein Schuhmacher, ein einfacher Mann, der kaum lesen und ­schreiben kann, erzählt von dem Pflaster vor seinem Haus, auf das er immer seinen Stuhl und seinen Tisch stellte.

Jetzt sind die Bewohner überall in der Welt verstreut und haben keinen Zugang mehr zu ihren Lieblingsorten?

Die meisten sind in der Diaspora, ja. Aber selbst für die wenigen, die in Aleppo geblieben sind oder dorthin zurückkehrten, gilt meist, dass ihre Orte verloren sind. Das Kaffeehaus, von dem der junge Mann erzählt, ist zerstört. Das Kulturzentrum wurde 2012 erst geschlossen; im Krieg wurde das Gebäude dann halb zerstört. Andere Orte befinden sich in einem Teil der Stadt, in den die Bewohner nicht ­dürfen.

In welcher Form erzählen Sie diese Geschichten?

Wir haben insgesamt zehn Geschichten ausgewählt. Sie werden deutschen Schauspielern gegeben, die sie auf Englisch in einer 1:1-Situation, auf zehn kleinen, im Raum schwebenden Minibühnen mit je einem Tisch und zwei Stühlen einem Zuschauer erzählen.

Jeder Zuschauer erfährt nur eine Geschichte, sieht aber, dass es noch andere gibt – erneut also ein Moment der Abwesenheit?

Richtig. Die Stadt entfaltet sich über diese zehn kleinen Bühnen. Man sieht sie und stellt fest, dass es mehr gibt, als man unmittelbar erfährt.

Warum wird in englischer Sprache erzählt?

Das Haus der Kulturen der Welt wollte es so. Und ich fand es interessant, weil damit auch Kommunikationsprobleme sichtbar gemacht werden. Man bewegt sich in einem Medium, das weder die Muttersprache der Interviewten noch die der meisten Zuschauer ist. Syrer haben in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass ihren eigenen Erzählungen kaum zugehört wurde und die narrativen Strukturen der internationalen Medien das Sprechen über Syrien prägten. Das ist ein großes Problem für viele Syrer.

Was sind die gröbsten narrativen Ärgernisse?

Mohammad Al Attar

1980 in Damaskus geboren, ist er schon seit zehn Jahren ein Vertreter des neuen syrischen Theaters. Gemeinsam mit dem Regisseur Omar Abusaada ­entwickelte er ab 2007 Performances in einem Jugend­gefängnis in Syrien sowie in ­abgelegenen ländlichen Regionen.

Seit 2011 reflektiert Al Attar in eigenen Stücken und in Bearbeitungen antiker Texte (weiterhin in Zusammenarbeit mit Abusaada) die politische und gesellschaftliche Situation in seinem Heimatland sowie das Schicksal seiner Landsleute in der Diaspora. Gegenwärtig lebt und arbeitet er in Berlin.

Im Haus der Kulturen der Welt läuft seine Produktion „Aleppo. A Portrait of Absence“ als Teil der Reihe „Why are we here“ vom 21. bis 23. September. An der Volksbühne, im Hangar 5 am Tempelhofer Feld, zeigt er vom 30. 9. bis 3. 10. „Iphigenie“.

Es geht darum, dass der Kampf gegen die Diktatur nicht erst 2011 begann. 2011 war ein Höhepunkt, das ja. Aber es gab schon in den Jahrzehnten zuvor, seit den 60er Jahren, Protestwellen.

In „Iphigenie“, Ihrem zweiten Projekt am Flughafen Tempelhof, wählen Sie eine ganz andere Erzählform. Sie bedienen sich eines antiken Textes, um das Heute, die Situation syrischer Frauen und Mädchen in der Diaspora, sichtbar zu machen. Warum diese selbst auferlegten narrativen Beschränkungen?

Große Literatur, selbst wenn sie alt ist, erlaubt, den gegenwärtigen Moment, unsere aktuelle Tragödie, besser zu lesen und zu verstehen. Der Text, den wir ausgewählt haben, ist eine gute Basis für unsere Workshopteilnehmerinnen, junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, so alt also, wie Iphigenie war, über ihre Situation zu sprechen.

Sie haben einen ähnlichen Versuch schon mit Ihrem „Antigone“-Projekt in syrischen Flüchtlingslagern im Libanon unternommen. Wiesen die Frauen wirklich biografische Parallelen zu den Tragödiengestalten auf?

Wir haben zwar nicht explizit danach gecastet. Aber bei „Antigone“ gab es tatsächlich eine Frau, die zwei Brüder verloren hatte und einen davon nicht begraben konnte. Vor allem aber sind wir auf viele Antigones gestoßen, die gegen autoritäre Strukturen, politische Machtsysteme und patriarchale Hierarchien aufbegehrt haben. Die arabischen Revolutionen waren für Frauen und Mädchen noch komplexer, noch aufreibender. Denn für sie ging es nicht nur um demokratischere Strukturen in der Politik, sondern eben auch gegen die alten patriarchalen Systeme und sozialen Normen.

Sind im aktuellen Projekt jetzt alle Iphigenie, geopfert von ihren Vätern für den eigenen Machterhalt?

Sie sind alle Iphigenie, ja. Denn sie haben alle Opfer gebracht, als sie nach Deutschland gegangen sind. Manche haben ihre Ausbildung, ihr Studium abgebrochen, ihre beruflichen Karrieren beendet, ihre Familien verlassen. Manchmal sind sie auch weg, um den anderen nicht zur Last zu fallen. Das alles erfordert viel mentale Kraft. Und es hinterlässt Spuren.

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