Mosaik eines kurzen Lebens

Literatur In Jonas Hassen Khemiris neuem Roman sucht ein Autor nach einer Person und findet einen disparaten polyphonen Erzählkosmos

Halbtunesischer Halbschwede: Jonas Hassen Khemiri Foto: Martin Stenmark

VON Katharina Granzin

Wer spricht hier eigentlich? Und wer war dieser Samuel? Der schwedische Autor Jonas Hassen Khemiri ist kein Autor, der seine LeserInnen unterschätzen würde. Auch sein neuer Roman „Alles, was ich nicht erinnere“ erfordert tätige gedankliche Mitarbeit. Das ist zunächst durchaus etwas irritierend, weil man anfangs noch keine Orientierungspunkte hat. Abschnittsweise wechselt die Erzählperspektive, verschiedene Personen steuern ihre Sichtweise auf eine Person namens Samuel bei, mit der irgendetwas passiert zu sein scheint.

Auch ein Autoren-Ich ist darunter, das die Chronistenfunktion – beziehungsweise -fiktion – übernommen hat und die Erzählungen der anderen gleichsam einsammelt. Formal gesehen also eigentlich eher harter Stoff; aber wenn man sich eingegroovt hat auf diese fragmentierte, polyphone Erzählweise, fallen die Bruchstücke irgendwann sehr geschmeidig wie von selbst zusammen zu einem Gesamtbild – auch wenn dieses, wie ein antikes Mosaik, die Brüche zwischen den einzelnen Elementen jederzeit durchscheinen lässt und durchaus größere weiße Stellen aufweist, wo Elemente fehlen.

Von der Straße ­abgekommen

Samuel, ein junger Mann von etwa Mitte, Ende zwanzig, hat sich vielleicht umgebracht, vielleicht auch nicht, wer weiß das schon. Er ist in einem geliehenen Auto zu schnell gefahren und von der Straße abgekommen. Das Autor-Ich befragt nun alle, die dem Toten nahestanden, nach dessen letzten Tagen, Wochen, Monaten. Dazu bedarf es großer Hartnäckigkeit. Samuels Mutter zum Beispiel will zunächst gar nicht über ihren Sohn sprechen und erklärt sich erst nach vielen vergeblichen Kontaktversuchen dazu bereit. Sein Mitbewohner und bester Freund wiederum hat viel zu erzählen, aber eine extrem eigene Sichtweise auf die Dinge, und lässt sich seine Gesprächigkeit zudem teuer bezahlen. Na, und Samuels Exfreundin hat ihm sicher auch nicht gutgetan, so viel lässt sich nach der Lektüre mit Sicherheit sagen. – Und sobald man beginnt, sich solche Gedanken zu machen, ist man mittendrin, mitgefangen im großen existenziellen Spiel, das Jonas Hassen Khemiri angezettelt hat.

Jonas Hassen ­Khemiri ist bestimmt kein Autor, der seine LeserInnen unterschätzen würde

Es ist bestimmt nicht allzu weit hergeholt, wenn man die Wichtigkeit, die existenzielle Fragen in den Romanen Khemiris einnehmen, auch mit der Tatsache zusammenbringt, dass der Autor selbst, als halbtunesischer Halbschwede sich schon immer mehr mit Fragen der Identität hat auseinandersetzen müssen als die meisten anderen Menschen. Samuel, der Politologie studiert hat und beim Amt für Migration arbeitet, hat einen sehr ähnlichen Hintergrund wie sein Autor. Im Unterschied zu seiner Freundin Laide jedoch, die, obwohl in Schweden aufgewachsen, fließend arabisch spricht, besteht sein eigenes Arabisch aus wenigen, schwer verständlichen Bruchstücken. Laide, die zunächst sehr verliebt ist in den deutlich jüngeren Samuel, beginnt ihn irgendwann wegen seiner auffallenden Anpassungsfähigkeit zu verachten, wegen der Tendenz, stets den Sprachduktus seines jeweiligen Gegenübers anzunehmen, und nicht zuletzt wegen seiner scheinbar apolitische Haltung; denn im Gegensatz zu Laide vermeidet Samuel es, auf Demos zu gehen.

Laide und Vandad, die beiden Menschen, die Samuel am nächsten standen, haben auch am meisten zu erzählen. Zwischen ihren Erzählungen aber klafft eine bedenkenswert große Lücke – eine Lücke, in der die Person des zu Tode gekommenen Samuel nicht wirklich zu finden ist. So sehr das Autoren-Ich sich um ein vollständiges Bild aller relevanten Geschehnisse bemüht, bleibt Samuel als Person im Roman eine schemenhafte Erscheinung. Sehr plastisch dagegen treten uns die erzählenden Personen entgegen. Vandad und Laide, die beiden Gegenspieler und Konkurrentinnen um Samuels Gunst, werden so zu den eigentlichen Hauptfiguren des Romans – als Erzählende und als die treibenden Kräfte der Handlung.

Der Roman spielt in Stockholm und geht auch an etlichen Stellen kunstvoll mit der Stadtgeografie um, er wäre deswegen eines Tages sicher ganz wunderschön zu verfilmen. Eigentlich ist all das schön gestaltete lokale Drumherum aber relativ egal. Denn das Drama um die Absichten und Identitäten eines jungen Mannes, die bei seinem Tod letztlich den Freunden im Dunkeln geblieben sind, das ist schlicht universell.

Jonas Hassen Khemiri: „Alles, was ich nicht erinnere“. Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann. DVA, München 2017, 336 Seiten, 19,99 Euro