Berliner Szenen: Imitation of Life
Feiste Seelöwen
Das Befahren des Kreuzberger Landwehrkanals mit Schlauchbooten ist in diesem Sommer groß in Mode. An den wenigen schönen Tagen sieht man Schwärme junger Poser bewegungslos auf der stinkenden Giftbrühe treiben. Nur gelegentlich kündet ein träger Paddelschlag davon, dass an Bord noch menschliches Leben herrscht – die Ratten haben das Schiff gar nicht erst betreten. Das Mikromanöver reicht meist aus, um sich bei Bedarf aus der Fahrrinne der Ausflugsdampfer zu entfernen.
Als beispielhaft kann das fesche Herrenpaar unweit der Hobrechtbrücke gelten. Wie feiste Seelöwen liegen sie in ihrem Gefährt hingelümmelt da. Sonnenbrillen, je ein Hütchen und als superironisches Statement blättert einer in so einer Friseurzeitschrift – ich glaube, die Bunte“zu erkennen.
Er will die nicht wirklich lesen. Vielleicht hat er ja seinen Mac dahinter versteckt. Man soll halt sehen, dass er, haha, so eine Trash-Illustrierte liest. Die Show will ein motivtaugliches Gesamtkunstwerk sein – das Schlauchboot und die Bunte als Spießerzitat. Auf dem Wasser wird man nämlich optimal gesehen. Es gibt überhaupt keinen anderen Grund, hier herumzudümpeln, außer Bilder von und für sich selbst sowie für andere zu kreieren.
Dabei ist die Bootspartie nur ein Symptom für ein weiterreichendes Phänomen: das gespielte Leben. Viele bewegen sich nur noch wie selbst gecastete Figuren durch einen selbst inszenierten Film. Und es stellt sich die Frage: Ist eigentlich noch irgendjemand in der Lage, eins zu eins einfach nur das zu tun, was er will und was ihm Spaß macht? Und zwar nur deshalb, weil er es will und weil es ihm Spaß macht? Ohne darauf zu achten, wie er dabei aussieht und ob eine andere Person ihm dabei zuguckt und wie er wiederum auf diese wirkt? Also ich bin es nicht. Uli Hannemann
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