: Besoffen vor Erleichterung
Bis zum Schluss hofft die SPD, die Union noch zu überholen
VON HANNES KOCH
Schon kurz nach 18 Uhr wird im Willy-Brandt-Haus der SPD ein Bier nach dem anderen gezapft, viele GenossInnen rauchen Freuden-Zigaretten. Parteichef Franz Müntefering lässt sich nicht lange bitten und gibt von der Bühne die Parole aus: „Dieses Land will Gerhard Schröder als Bundeskanzler haben.“
Wie bitte?, fragten sich alle, die zuschauten. Wie soll das gehen? Schließlich hat die SPD gegenüber dem Ergebnis von 2002 einen Verlust von 4,3 Prozent (Hochrechnung der ARD von 21.00 Uhr) verbucht und erreicht nur noch 34,2 Prozent. Die Union liegt vor den Sozialdemokraten. Und trotzdem tun die SPD-Politiker von Gerhard Schröder über Verteidungsminister Peter Struck bis zu Generalsekretär Klaus Uwe Benneter so, als sei das Rennen offen.
Eilfertig verweisen die Pressesprecher auf den Abstand zur Union, der sich zeitweise zu verringern scheint. Man spekuliert über die Überhangmandate, die die SPD gewinnen könnte, und freut sich ein Loch in den Bauch, als Forsa derer maximal zehn errechnet. Im günstigsten Fall hätte die SPD im Bundestag damit ebenso viele Sitze wie die Union. Gerhard Schröder bleibt es vorbehalten, die Sachlage gegen 19.30 Uhr so zusammenzufassen: „Wir haben erreicht, was vor kurzem noch völlig unmöglich erschien.“ Und er legt nach: „Eine große Koalition unter Führung der Union wird es nicht geben.“
Das Hochgefühl der SPD gestern Abend hatte zwei Ursachen: Das prognostizierte Desaster hält sich in einigermaßen erträglichen Grenzen, und die Union ist weit unterhalb der stabilen Regierungsmehrheit geblieben, die vor Wochen unabänderlich festzustehen schien. Der stärkste Jubel kommt denn auch immer dann auf, wenn die Ergebnisse der Union über die Bildschirme im Willy-Brandt-Haus laufen – drei Prozent weniger als bei der Bundestagswahl 2002. Eine Niederlage für Angela Merkel.
Der eigentliche Erfolg des Wahlkampfs der SPD besteht somit darin, den Vorsprung der Union in der Wählergunst fast neutralisiert zu haben. Zugunsten der SPD wirkte sich aus, dass die Union den Steuerexperten Paul Kirchhof als künftigen Finanzminister in den Wahlkampf geschickt hatte. Dessen Idee, eine 25-prozentige Einheitssteuer für alle Bürger einzuführen, beherrschte die Auseinandersetzung. Dieser Plan bot Schröder eine willkommene Vorlage, seine Reformpolitik als sozial ausgewogener darzustellen als die Konzepte der Union. Einer Umfrage der ARD zufolge spielte dieses Thema bei den Wählern eine große Rolle.
Doch mit ihrem eigenen Verlust hat auch die SPD eine Quittung bekommen – für die Agenda 2010. Das Programm, das Schröder im März 2003 im Bundestag verkündete, beinhaltet Maßnahmen zur besseren Vermittlung von Arbeitslosen, aber auch empfindliche Einschnitte in das soziale Netz. So wurde die frühere Arbeitslosenhilfe abgeschafft und zu dem in den meisten Fällen niedrigeren Arbeitslosengeld II umfunktioniert. Gleichzeitig sahen viele SPD-Anhänger die Grundwerte der SPD, vor allem den der sozialen Gerechtigkeit, gefährdet. Die Kritik entzündete sich daran, dass die Einschnitte ins soziale Netz zur gleichen Zeit erfolgten wie Steuersenkungen für Wohlhabende und Unternehmen.
Probleme im Wahlkampf bereitete der SPD Schröders Ansage, sich für ebendiese Politik eine Bestätigung der Wähler holen zu wollen. Der Bundeskanzler machte permanent deutlich, dass er für eine andere Politik als die der vergangenen Jahre nicht zur Verfügung stehe. Die Partei konnte den Wählern kein Angebot machen, um die frustrierten Stammwähler zurückzugewinnen – aber letztlich hielt sich auch deren Abwanderung in Grenzen.