5.000 Ringe im Jahr

IM NETZ Wer sich mit den Vögeln beschäftigt, erfährt etwas über den Menschen und das, was er so alles anrichtet. Zu Besuch in der Nabu-Vogelwarte im Hamburger Naturschutzgebiet „Die Reit“

VON ROGER REPPLINGER

So viel Braun. Da hält man hier oben mal den Schnabel. Ziemlich lang. Und dann noch ein bisschen länger. Muss man nicht reden. Schnaufen und gucken reicht völlig. Die Holzstufen, die zum Turm hinauf führen, sind moosig, glitschig und wenn man auf eine Stufe tritt, bilden sich kleine Blasen. Der Turm muss nicht hoch sein, weil sonst alles hier flach ist. Eine Tasse, nein, zwei, und eine Kanne stehen auf dem breiten Turmgeländer. Der Kaffee ist längst kalt. Hat jemand hier vergessen, der so weg war von der Schönheit dessen, was er gesehen hat.

Da ist der See, und um ihn herum Birken, und an seinem Rand der Schilf. Es ist ruhig, braun und diesig. Hinten, ganz hinten, löst sich alles auf wie bei Monet. Vorne Ocker, Hell- und Dunkelbraun, Sandfarben und dickes Braun. Und viel Grün. Die Stadt ist nah, was die reine Entfernung angeht: Zehn, elf Kilometer sind es bis zum Hamburger Zentrum. Ganz weit weg ist sie in Hinblick auf die Ruhe und das Schnabel-Halten.

Schwer klagen die Gänse

Die schwarzen Striche in der Luft, das sind Vögel. Das Singen auch: „Zirp, zirp, zirp.“ Kanadagänse. Die klingen so, dass man hinter ihnen her rennen will, um sie zu trösten. Sind so arme Gänse. Sind hübsch, tragen aber schwere Klagen vor. Streifengänse haben wir hier auch, Nilgänse, die noch nicht richtig heimisch sind in diesen Breiten.

Wir sind im Naturschutzgebiet „Die Reit“ und stehen mit Sven Baumung auf dem Turm. Unten sind Nicole, Andrea, Martin und Horst. Baumung, 47, ist Diplombiologe und leitet das Stadtteilbüro Bergedorf des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu). „Die ham ’nen Vogel“, sagt er. Also klettern wir runter und schauen uns an, was Martin da im Beutel hat. Es ist kurz nach acht und die Mitarbeiter der Nabu-Vogelstation kommen von der Inspektion der Netze zurück, die sie aufgespannt haben, um Vögel damit zu fangen und sie dann zu beringen.

Im kleinen Büro stehen wir um Martin herum, der seine Hand in dem blau-weiß karierten Stoffbeutelchen hat, das sich links und rechts ausbeult. Daneben sitzt Nicole am Computer. Wir halten die Luft an. Martin zieht die Hand aus dem Beutel: eine Amsel. „Eine hübsche“, sagt Nicole. Martin sieht sich das Vögelchen an. Flügel- und Federlänge messen. Martin pustet den Vogel an, der ganz ruhig in seiner Hand sitzt. Unter dem Gefieder sieht er, wie viel Fett der Vogel eingelagert hat. Wird alles notiert. Kopfüber kommt die Amsel in eine kleine Röhre, wiegen. Dann kriegt sie einen Ring ums Bein, mit einer Nummer darauf. Der Ring wird ganz vorsichtig fest gedrückt, so dass er nichts abdrückt. Zu locker sitzen darf er auch nicht, damit die Amsel nicht irgendwo hängen bleibt. Deren Geschlecht wissen wir nicht: Sie ist zu jung, um es am Federkleid zu erkennen. Wahrscheinlich ein Männchen, im April geboren. Nun sind alle Daten aufgenommen, die Amsel wird durch ein kleines Schiebefenster nach draußen entlassen. Wupp – weg ist sie.

Bei den Amseln ist es so, dass ein Teil in den Süden fliegt, und ein Teil schlägt sich hier durch. „Die aus Skandinavien und dem Baltikum bleiben da“, sagt Baumung. Für die ist Hamburg Süden. Einheimische Amseln fliegen ans Mittelmeer. Nicht ohne Risiko: In Frankreich, Spanien und Italien werden sie, wie andere Vögel auch, gejagt.

3.500 bis 5.000 Vögel werden jedes Jahr in der Reit beringt. Am 6. November war Schluss, am 30. Juni geht es wieder los. „Es geht um ein standardisiertes Verfahren, das einen langfristigen Vergleich im Hinblick darauf ermöglichen soll, wie sich die Vogelarten entwickeln“, erklärt Baumung. Der Vogelzug ist ein Indikator für die Klimaveränderung. Wir erfahren, wenn wir uns mit den Vögeln beschäftigen, etwas über den Menschen – und den Mist, den er baut.

Wer hungert, fliegt weg

„Wir erstellen Diagramme, aus denen erkennbar ist, wann welcher Vogel durchzieht“, sagt Baumung. „Da gibt es bei einigen Arten deutliche Verschiebungen.“ Es gibt Vögel, die ziehen früher weg, das sind die Langstreckenzieher, die südlich der Sahara in West-, Ost- und Südafrika überwintern. Die kommen früher, brüten früher und sind auch früher wieder weg. Und es gibt die Kurzstreckenzieher, für deren Entscheidung, ob sie bleiben oder fliegen, die Beutetiere entscheidend sind: Wenn Dorngrasmücke, Gartengrasmücke, Teichrohr- und Schilfrohrsänger genügend zu fressen finden, bleiben sie. Wenn nicht, nicht.

„Hören Sie das?“, fragt Baumung. Klar. Ein Zilpzalp, der „zilp, zilp, zilp“ macht. Und da: eine Heckenbraunelle, die so trillert, wie sie heißt: „elelelelell“.

Manche Vogelarten ziehen im Winter an die Kanalküste, weil sie es da kommoder haben: der Golfstrom. Oder in die Stadt, die ist wärmer als das Naturschutzgebiet. Im Hamburger Hafen, weiß Baumung, „gibt es einige Arten, die man da vor ein paar Jahren noch nicht fand“. Etwa die Bachstelze oder den Hausrotschwanz, der eigentlich im Gebirge vorkommt.

Es ist neun Uhr. Was haben wir in den Netzen, was im Beutelchen? Nicole greift vorsichtig hinein. Ein Zaunkönig, hat schon einen Ring: Nummer 90098746. Martin schaut im Computer nach: Der Vogel wurde am 15. Oktober beringt. „Du bist gut beieinander“, sagt Nicole zu dem Zaunkönig und die beiden sehen sich tief in die Augen.

Pro Saison geht ihnen ein Bussard ins Netz. Zu Fuß. Fliegt so ein Bussard, reißt er das Netz in Fetzen, das aus weichem Material und so konstruiert ist, dass es die Vögel nicht verletzt. Im Netz und in dem Beutel geht es dem Vogel prima. Nicole vermutet, „dass die sich mehr erschrecken, wenn sie unsere Fratzen sehen“. Und was hat Martin mitgebracht? Eine Blaumeise. Jetzt grinsen alle. Martin holt die Blaumeise raus, die stellt ihre Federn auf und schon hackt sie ihm auf den Finger, da, wo es wehtut. Hackhackhack. „Gib’s mir“, sagt Martin freundlich. Die Blaumeise wiegt 10,9 Gramm, Flügellänge 50,5 Millimeter. Sie kriegt die Nummer 9009899. Dann haben wir ein Rotkelchen mit Läusen. Andrea lässt die kampflustige Blaumeise fliegen.

Alte Bekannte

„Wir haben ein paar alte Bekannte“, sagt Baumung. Da gibt es einen Teichrohrsänger, der schon siebenmal nach Afrika geflogen ist. So klein sei der, sagt Baumung, „und schafft solche Sachen“.

Nochmal auf den Turm. Im Schilf sitzt der Gimpel, den wir die ganze Zeit gehört haben. Baumung guckt durchs Fernglas. Äste hängen ins Wasser, auf der Birke sitzt ein Zaunkönig und am Fuß des Baumes spielt ein Eichhörnchen Fangen mit sich selbst. Ein Stockenten-Weibchen flattert, der Erpel guckt. Der Zaunkönig „ist der, den wir vorher beringt haben“, sagt Nicole. „Ich erkenne die Stimme wieder.“