: Vorteile oder Übervorteilung?
Mexiko Das nordamerikanische Abkommen Nafta hat viele Kleinbauern in Mexiko in Armut gestürzt. Arbeitsrecht und Umweltauflagen wurden ausgehöhlt. Dennoch setzt die Regierung auf den Freihandel
Aus San Quintín Wolf-Dieter Vogel
Zwölf Stunden Erdbeeren pflücken, sieben Tage die Woche. Und das für einen Lohn, der kaum ausreicht, um die Familie zu ernähren. „Wenn ich nach Hause komme, schlafen die Kinder schon“, sagt Lorenza Lopez. Die indigene Frau hatte etwas anderes erwartet, als sie aus dem verarmten Süden Mexikos in den Bundesstaat Baja California zog.
Wie so viele hat sie ihre Heimat verlassen, um auf einer Plantage zu arbeiten. Allein hier im San-Quintin-Tal nahe der Grenze zu den USA ernten 80.000 Tagelöhner Tomaten, Erdbeeren und andere Früchte für den Export ins nördliche Nachbarland. Insgesamt sind etwa 2,4 Millionen Menschen in Mexiko in diesen Agraranlagen tätig.
Die meisten seien nicht freiwillig aus ihren Dörfern gegangen, ist die Landwirtschaftsexpertin Ana de Ita überzeugt. Der Nordamerikanische Freihandelsvertrag (Nafta) sei dafür verantwortlich, dass viele ihr kleinbäuerliches Dasein aufgeben mussten. „Die US-Importe zu Dumpingpreisen, ohne Zölle und Quoten, haben die Märkte überschwemmt“, erklärt sie. Die Preise für Mais, Bohnen oder Weizen seien um 50 Prozent geschrumpft. Die Folge: Millionen Kleinbauern konnten nicht konkurrieren und verloren seit Inkrafttreten des Abkommens 1994 ihre Lebensgrundlage.
Wenn sich kanadische, US-amerikanische und mexikanische Regierungsvertreter am 16. August erstmals treffen, um über die Zukunft des Nafta-Vertrags zu sprechen, steht für Mexikos Präsident Peña Nieto eines im Vordergrund: der ungezügelte Handel. Eine der Prioritäten sei, so heißt es in einem jüngst veröffentlichten Papier des Wirtschaftsministeriums, den Fluss landwirtschaftlicher Produkte durch „klare Regeln, Verfahren und den Abbau von Wirtschaftsbarrieren“ zu erleichtern.
Die in den Agrarindustrien produzierten Tomaten, Papayas und Avocados sollen weiterhin zollfrei und unkompliziert die Grenze zu den USA passieren. So wie 80 Prozent aller mexikanischer Exportwaren: Autos, Elektrowaren und Schuhe, Gemüse, Bier und Tequila. Wie die Kanadier sprechen sich die Mexikaner folglich gegen protektionistische Maßnahmen aus.
Mexiko solle als „Plattform für Produktion und Export“ die regionale Versorgung stärken, betont das Wirtschaftsministerium. Deshalb setzt Peña Nietos Kabinett vor allem darauf, mehr Investoren ins Land zu bekommen. Sollte Trump Ernst machen, wären nach Befürchtungen von Unternehmensverbänden über 2 Millionen Arbeitsplätze gefährdet.
Nafta-Kritiker bezweifeln jedoch, dass die Investitionen den angepriesenen Erfolg gebracht haben. Vor allem werde in Weltmarktfabriken investiert, in denen nur eine Teilfertigung stattfinde, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Alejandro Nadal. Die könnten die Ökonomie nicht beleben, „weil sie vom übrigen Produktionskreislauf völlig abgekoppelt sind“. Die Teile werden im Ausland hergestellt, an mexikanischen Werkbänken zusammengebaut und dann exportiert.
Mexikos Standortvorteil: billige Arbeitskräfte und niedrige Umweltstandards. In der Automobilindustrie verdienen mexikanische Arbeiter ein Fünftel dessen, was in Kanada und in den USA bezahlt wird. Bislang finden internationale arbeitsrechtliche und ökologische Vorgaben nur in schwachen Nebenverträgen Erwähnung. Im modifizierten Abkommen sollen sie eine verbindliche Rolle spielen. Das hält auch die mexikanische Regierung für verhandelbar. „So kann verhindert werden, dass ein Produzent erfolgreich in die USA exportiert, weil er die mexikanischen arbeitsrechtlichen Vorgaben ignoriert“, erklärte Wirtschaftsminister Ildefonso Guajardo.
Kritiker bezweifeln jedoch, dass sich das umsetzen lässt. Bislang garantieren korrupte Beamte und unternehmensnahe Gewerkschaften, dass Arbeiterinnen und Arbeiter oft unter unwürdigen Bedingungen schuften, giftiges Abwasser Flüsse kontaminiert und Steuern hinterzogen werden. Ob tatsächlich, wie US-Präsident Donald Trump fordert, höhere Löhne festgeschrieben werden, ist fraglich. Jedenfalls widerspräche es dem Standortvorteil.
Zurückhaltend zeigt sich Guajardo mit Blick auf ein Thema, das die USA und Kanada entzweit: das „Kapitel 19“, das die Einrichtung binationaler Gremien erlaubt, vor denen Unternehmen klagen können, wenn sie sich durch nationale Schritte wie etwa neue Gesetze geschädigt fühlen. Trump will das Kapitel streichen, die kanadische Seite hat den Erhalt dagegen zur Voraussetzung für die Verhandlungen erklärt. Mexikos Regierung will abwarten, wie die Vorschläge der Partner aussehen.
Vertrag: Der Freihandelsvertrag Nafta (North American Free Trade Agreement) ist seit dem 1. Januar 1994 in Kraft und bezeichnet die Zollunion zwischen Mexiko, den USA und Kanada. Damit umfasst die Freihandelszone einen Binnenmarkt von rund 478,4 Millionen Menschen mit einer gemeinsamen Wirtschaftsleistung von rund 17 Billionen US-Dollar.
Handel: Das Handelsvolumen beträgt über 1 Billion US-Dollar. Zwischen 1994 und 2016 haben sich die US-Exporte nach Mexiko versechsfacht, die mexikanischen Exporte in die USA mehr als versiebenfacht.
Naftexit: Es gilt eine sechsmonatige Kündigungsfrist.
Umso entschlossener besteht man in Mexiko-Stadt darauf, dass der neue Vertrag 2018 unter Dach und Fach gebracht werde, erklärte Guajardo. Nafta soll nicht dasselbe Schicksal ereilen wie das Transpazifik-Abkommen, das der frisch gewählte Trump kurzerhand in den Papierkorb warf, nachdem es jahrelang verhandelt worden war.
Guajardo hat jedoch sein eigenes Land im Blick. Nächstes Jahr finden in Mexiko Präsidentschaftswahlen statt. Der linke Kandidat Andrés Manuel López Obrador könnte das Rennen machen – ein Politiker, der den Freihandelsbestrebungen äußerst skeptisch gegenübersteht.
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