Sommerzeit, Urlaubszeit. Aber wer kümmert sich eigentlich um die Zurückgelassenen?
: Jetzt sind sie alle weg

Foto: Jonas Maron

Herbstzeitlos

von Martin Reichert

Die meisten Mitbürger stehen um diese Jahreszeit im Stau. Vor allem solche Menschen, die eine Familie gegründet haben und nun abhängig sind von den Ferienzeiten ihrer Kinder – die viel mehr Ferien haben als ihre Eltern. Es sei denn, es handelt sich dabei um Lehrer, dann haben sie genau gleich viel Urlaub.

Ein Kollege beschrieb neulich den letzten Schultag seiner Tochter, der sinngemäß wie folgt verlief: Der Schuldirektor einer Berliner Grundschule steht auf dem Schulhof, er hat einen Ghettoblaster aufgedreht und verteilt Wassereis. Wie in einem Film mit Elyas M’Barek.

In meiner Grundschulzeit gab es nie Wassereis. Wenn es überhaupt mal etwas gab, dann war es eine Wiener Wurst, die man nach Abschluss des sommerlichen Sportfestes überreicht bekam, nach Absingen der Nationalhymne, sowie gegebenenfalls eine vom „Wanderpräsidenten“ Karl Carstens unterschriebene Urkunde. Wenn das mit dem Sportfest durch war, waren bald Sommerferien. Nur das mit dem Stau klappte bei mir zu Hause nicht, denn wir fuhren in der Regel nirgendwohin. Es waren Zustände, wie in Uli Hannemanns Kolumne „Damals bei uns daheim“.

Alle anderen hingegen fuhren in ihren Ford Granadas, Mercedes und Passat, so weit sie nur konnten. Nach Österreich in die Berge, über die Autoroute de So­leil nach Südfrankreich oder Spanien, über den Brenner nach Italien. Andere flogen sogar: nach Gran Canaria! Nach Tunesien!

Ab dem letzten Schultag also hatte ich als Kind das, was man heute „seine Ruhe“ nennen würde und für das ich damals keine Worte fand. Wollte man jemanden „zum Spielen“ abholen, war nicht einmal mehr jemand da, der die Tür öffnete. „Einsamkeit“ ist für Kinder ein noch viel zu großes Wort. Aber dass der Sommer auch ein große, weite „Ödnis“ sein konnte, mit vertrocknetem Rasen vor Reihenhäusern, das konnte ich schon erfassen.

Heute nun sind fast alle Berliner weg. Auf ihren Fincas hocken sie und tunken gediegen gebackenes Weißbrot in erlesenes Olivenöl oder essen Nudeln mit Soße in billigen Bettenburgen. Andere lesen unter Pinienbäumen Gesellschaftsromane gigantischen Ausmaßes. Wenn sie nicht längst von einer Feuersbrunst verschlungen werden – oder noch immer bei München auf der Autobahn stehen.

Derweil hat man in Berlin alle Car-Sharing-Autos für sich ganz alleine. Im Spaßbad herrscht Abwesenheit, Karstadt ist wie ausgestorben, und die Einzigen, die hier noch für Leben sorgen, sind die Touristen.

Man könnte nun also endlich mal in den Zoo gehen, in den man noch nie wollte. Man könnte den Fernsehturm erklimmen und Moselwein trinken, sich bei Mustafas Gemüsekebap in die Schlange stellen und ironisch gucken. Man könnte einen Ku’dammbummel machen und ins Ku’Dorf gehen, eine Spreerundfahrt machen, am Potsdamer Platz shoppen und in die „Gärten der Welt“ nach Marzahn fahren. Man könnte Bierbike fahren, Trabbi-Safari machen und sich am Checkpoint Charlie eine Tschapka kaufen.

Aber sagt mal, Leute: Wann kommt ihr eigentlich wieder zurück? Ist schon ein bisschen langweilig hier.

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