Wenn wir wieder nüchtern werden

Ein Wahlausgang mit seelischer Tiefenwirkung: Nach rot-grünem Jubel über schwarz-gelbes Scheitern ist am Morgen danach Katzenjammer ausgebrochen. Das selbst fantasierte Jahrhundertprojekt ist am Ende! Kummer ist aber unnötig. Ein Vorschlag zum Erwachsenwerden

Demokratische Fähigkeit beweist sich am Talent zum Kompromiss

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Wenn man die freigesetzten Affekte auf den Wahlpartys, wo in der Republik sie auch immer stattfanden, der Parteien zum Maßstab nehmen würde, dann gäbe es nur einen Verlierer dieser Bundestagswahl. Allerorten wurde bei der Verkündigung der ersten Hochrechnung frenetisch gejubelt, nur bei den Unionschristen nicht.

Bei den Roten und den Grünen steigerte sich die Stimmung vollends und sichtbar ins Manische. Was man als Reaktion auf den – durchaus realistischerweise – befürchteten Wahlausgang verstehen kann. Noch am Wahltag liefen die meisten meiner rot-grünen Freunde herum, als würde ihnen demnächst die Welt abhanden kommen.

Die Zeichen standen auf Endzeit und apokalyptischer Depression: Würde nach dem Ende von Rot-Grün das Himmelsdach auf uns stürzen und wir tatsächlich von Heuschreckenschwärmen gefressen werden? Oder in einer neuen Eiszeit erfrieren? Viele sahen es wirklich so dramatisch. Sie sahen nicht eine politische Option, sondern ihr höchstpersönliches Lebensprojekt am Ende angekommen.

Bodo zum Beispiel: „Haben wir dafür in Brokdorf den Arsch hingehalten, dass jetzt die Atom-Mafia fröhlich alle Meiler bis Anno dunnemal laufen lässt?“ Oder Herbert: „Das wird das neue 1982! Wisst ihr noch? Danach 16 Jahre Kohl! 16 Jahre!! Habt ihr alle die Erinnerung daran schon verloren? Wenn ich das auf heute übertrage, dann bin ich ein Greis, wenn sich noch mal was Neues in der Politik tut. Stell dir das vor!“

Apokalypse 2005 – vor der Wahl. Nun ist es anders gekommen. Was daraus resultieren wird, weiß im Moment noch niemand. Nur so viel ist gewiss: Die aufgekratzt manische Stimmung des Wahlabends wird schnell verflogen sein. Und zweitens: Rot-Grün ist abgewählt.

Was immer sich an neuer Machtkonstellation herauskristallisieren wird, es wird etwas anderes sein als „das Projekt Rot-Grün“, das von seinem ganzen Zuschnitt her nicht als beliebige Parteienkoalition daherkam, sondern mit dem Anspruch eines Jahrhundertprojekts. Insofern wird sich am Ende der manischen Begeisterung am Sonntagabend bei vielen ein Katzenjammer eigener Art einstellen.

Bodo und Herbert sind prototypisch für eine bestimmte Klientel des rot-grünen Spektrums. Was sie befürchten, ist weniger der Verlust der Regierungsmehrheit als vielmehr der Verlust des mit viel Sorgfalt ausgestalteten Refugiums, in dem sie ihr Leben verbringen.

Seit den Siebzigerjahren haben sie daran gebastelt und schließlich – meist in der schrecklichen Zeit von Helmut Kohl – ihr Glück gemacht. So heißt das wohl, wenn man beruflich auf der sicheren Seite ist und es einem privat ganz gut geht.

Rot-Grün – das war für Leute wie Bodo und Herbert die öffentliche Krönung ihres privaten Lebens, die Abrundung dessen, was sie und viele Millionen andere daran für „politisch“ halten. Rot-Grün, das war eine spät gewonnene „zweite Heimat“, nachdem man die erste, das Nachkriegsdeutschland der Väter (und Mütter), nicht hatte annehmen wollen.

Seit 1998 lebte man in einer Republik, die von „unsereinem“ regiert wird. Plötzlich gingen ein paar Dinge ganz leicht, weil man immer irgendwo einen kannte, der etwas für einen tun konnte. Plötzlich war man Teil einer erfolgreichen Bewegung. Die einem etwas verschaffte, was man sich in früheren Tagen kaum vorstellen konnte: Ruhe. Man hatte seinen Platz gefunden und endlich – gewiss: „Es gibt noch viel zu tun!“ – ein ruhiges Gewissen: Das neue Deutschland war geschafft!

Man hatte Anteil am Weltgeschehen. Dafür steht „der Joschka“, „einer von uns“. Der mit den Wichtigen dieser Erde tafelt, internationale Anerkennung genießt – und uns auf seinen Welttourneen klammheimlich immer irgendwie mitnimmt: versteckt in der Brusttasche vielleicht oder im Handykästlein.

So wie das jüngste Geißlein bei den Brüdern Grimm. Mit ihm können – konnten? – wir am Glanz der Macht teilhaben, ohne uns an ihr schmutzig zu machen.

Rot-Grün war für anderthalb Generationen durch dieses Lebensgefühl attraktiv: ein Gefühlshort, der einstigen Außenseitern einen Platz an der Sonne verschaffte. Ähnlich wie Bodo und Herbert müssen sich unsere konformistischen Großeltern im Kaiserreich gefühlt haben.

Das ist jetzt futsch. Unwiderruflich und gleichgültig, wie die politische Konstellation aussehen wird. Selbst wenn Sozialdemokraten und Grüne auf irgendwelchen koalitionären Wegen an der Regierung bleiben sollten, das spezifische rot-grüne Lebensgefühl wird nicht mehr zu haben sein. Und das ist gut so, jedenfalls nicht unpassend. Das Wahlergebnis spiegelt eine bundesdeutsche Realität, an der sich endgültig die großen Gesänge und Entwürfe verschlissen haben.

Wie immer Rote und Grüne sich neu positionieren werden, sie werden zu einem Pragmatismus gezwungen sein, der eine neue Qualität des Politischen ins Spiel bringt.

Klar, Bodo und Herbert werden das anders sehen. Für sie wird sich der Schock der Realität, den das Auftauchen aus der Manie stets mit sich bringt, wahrscheinlich in eine wirkliche Depression verwandeln. Denn sie verlieren so oder so den ideologischen Kokon, in dem sie es sich eingerichtet haben.

Rot-Grün als psychosoziales Identitätsprojekt ihrer Generation hat ihre ursprüngliche Opferidentifikation und den Betroffenheitskult um die Machtdimension erweitert und daraus ein kunstvolles, schön anzuschauendes Mobile geschaffen. Nun ist es von der Decke gefallen, und prompt werden Leute wie Bodo und Herbert tatsächlich Opfer der Depression.

Unter der schweren Balkenüberschrift dieser Selbstdiagnose bekommt jeder persönliche Blues, jede melancholische Anwandlung metaphysische Tiefe, jede „politischen Niederlage“ geschichtsphilosophische Würde. Erst in diesem Weltschmerz sind die Bodos und Herberts ganz bei sich. So sind sie, als Verlierer, Wahlgewinner eigener Art. Der nächste manische Höhenflug ist schon gebucht.

Am Ende von Rot-Grün wird sich die Klientel der beiden bisherigen Regierungsparteien neu sortieren und – so optimistisch darf man sein – neue demokratische Qualität gewinnen.

Rot-Grün – das war für manche Leute die Krönung ihres privaten Lebens. Ein ästhetischer Ausdruck mit missionarischem Anspruch, voller Freude und Angst vor dessen Scheitern zugleich

Eine Grundeigenschaft des Homo democraticus besteht, so sagt man, in der Fähigkeit, wechselnde politische Mehrheiten als Normalität zu begreifen. Das mag trivial klingen, bedeutet jedoch weit mehr, als es zunächst scheint: Es geht dabei um so fundamentale psychische Leistungen wie Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit, aus dem simplen Modell eines Gut-Böse-Schemas herauszutreten.

Das demokratische Bewusstsein verweigert sich der manisch-depressiven Achterbahn-Logik des Betroffenheitskults und sagt: tertium datur – es gibt ein Drittes zwischen den angeblich konträren Gegensätzen. Das hat sich in Deutschland noch nicht wirklich etabliert: Hier geistert bei vielen immer noch der alte Spuk von der „welthistorischen Alternative“ als totalitaristisches Erbe durch die Hirne.

Demokratie jedoch verlangt Differenzierung – auch und vor allem psychische. Demokraten sind – so befremdend es manchen klingen mag – tatsächlich andere Menschen als diejenigen, die gezwungen sind, in Diktaturen oder autoritären Regimen zu leben. Sie repräsentieren ein Set von Einstellungen und Fähigkeiten, die in anderen Gesellschaftsformen entweder nicht gefragt sind oder bewusst unterdrückt werden: Fähigkeiten, die nicht naturgegeben sind und Zeit zur Entwickelung brauchen, Jahrzehnte bisweilen.

Nicht umsonst hat man die Bundesrepublik der Fünfzigerjahre als „Demokratie ohne Demokraten“ bezeichnet. Willy Brandts berühmter Satz aus seiner Regierungserklärung von 1969, man wolle „mehr Demokratie wagen“, bezeichnete ein zunächst und vor allem ein psychosoziales Lernprogramm. Das er angestoßen hat, das aber ironischerweise nach seiner Regierungszeit mehr zum Tragen kam als in ihr. Bei vielen Menschen erst durch die – depressive? – Erfahrung der Opposition, die für die Bodos und Herberts ja 1982 mit Kanzlerschaft Helmut Kohls begann und bis 1998 währte.

Melanie Klein, die bedeutendste Neuerin der Psychoanalyse, hat für die menschliche Entwicklung zwei Grundpositionen herausgearbeitet: die „schizoid-paranoide“ und die „depressive“ Position. Die erste, lebensgeschichtlich frühere, ist dadurch gekennzeichnet, die Welt krass in Gut und Böse zu spalten und das Böse auf die anderen zu projizieren. Die depressive Position zu erreichen, bedeutet im Kern: die Dinge des Lebens ertragen zu können. Ohne Resignation, aber auch ohne Illusion und Allmachtsfantasien. Denn nur dann ist Realität veränderbar. Diese Position ist nach Klein das Ziel des Lebens und, so minimalistisch es auch klingen mag, das Resultat lebenslanger Anstrengung.

Gleiches gilt, umso heftiger, für das demokratische Bewusstsein. Es bewährt sich in Vorstellungen von Machbarkeit, ohne dabei immer des Glanzes der Macht zu bedürfen, in der Fähigkeit zum Kompromiss, ohne sich dabei verstohlen das Wörtlein „faul“ in den Bart zu murmeln.

Bodo und Herbert haben jetzt beste Chancen, das zu lernen. Und es hängt von ihnen ab, ob man dafür 16 Jahre Zeit benötigt.