Berliner Szenen: Feierabend vor der Bar
Die Schnorrer
Nach getaner Arbeit ging ich gegen Abend zum Heinrichplatz und schnappte mir den letzten freien Tisch draußen vor einer Bar. Die zwei Männer, die sich gerade erhoben, ließen ein ordentliches Trinkgeld für die Kellnerin zurück. Sie sagten mir, ich solle es ihr geben, denn sie müssten jetzt los. Kaum waren die beiden weg, griff jemand nach den Münzen. Ich schaute hoch und – nein – es war nicht die Kellnerin. Es war ein Flaschensammler. Ich sagte zu ihm: „Ne, sorry, das Trinkgeld ist für die Kellnerin.“ Und er dann: „Nee, das ist meins!“
Da es nicht so schien, als ob man mit ihm verhandeln könnte, nahm ich das Geld schnell beiseite. Irritiert schaute er mich an und ging dann fluchend weiter. Wenige Minuten später kam eine Frau mit Kinderwagen. Darin ein Kleinkind in einen blauen Bademantel eingewickelt. Die Frau zeigte auf eine Zigarettenschachtel am Nebentisch. Die dort sitzende Gruppe schüttelte den Kopf, doch die Frau ließ nicht locker. „Bitte, bitte“, sagte sie und zeigte dabei auf ihr Kind. Als ob sie die Zigarette für ihr Kind bräuchte. Sie ließ und ließ nicht locker, bis ihr jemand die Zigarettenschachtel reichte. Anstatt sich eine herauszunehmen, nahm sie die ganze Packung an sich. Daraufhin jemand aus der Gruppe: „Äh, hallo? Doch nicht die ganze Schachtel!?“ Zuerst schaute die Frau verständnislos die Gruppe an. Dann nahm sie fünf Zigaretten an sich, bevor sie die Schachtel auf den Tisch donnerte.
Auch bei mir blieb sie stehen und zeigte auf meinen Tabakbeutel. „Bitte, bitte“, sagte sie. Und ich: „Du hast doch fünf Zigaretten in deiner Hand. Rauch die doch erst mal.“ Diese Logik schien ihr nicht zu gefallen. Sie griff nach meinem Tabak. Wie bei dem Mann zuvor nahm ich ihn an mich. Wenn Blicke wirklich töten könnten, wäre ich gestern Abend gestorben.
Eva Müller-Foell
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