Spione im Plattenbau

Für einen Chinesen ist der Alltag von Halle-Neustadt absurd. Er heißt Leerstand und will nun von Schauspielern, Architekten und Künstlern aus aller Welt in einer Sommerschule attackiert werden

VON NINA APIN

„Die Chemie stimmt!“, verkündet ein bunter Schriftzug am Eingang zum S-Bahnhof Halle-Neustadt. Daneben wachsen Männchen und Tiere aus der Erde, gebastelt aus Stromkabeln, Badarmaturen, Zivilisationsmüll. Der Souvenirshop in der Bahnhofshalle bietet Sandalen aus Linoleumresten, Taschen aus Auslegware, Bänke aus Wohnungstüren feil. Schrott aus verlassenen Wohnungen gibt es in Halle-Neustadt reichlich. Eben weil die Chemie nicht mehr stimmt: Seit die DDR-Chemiewerke Buna-Leuna ihre Tore schlossen, entvölkerte sich die Arbeiterschlafstadt, von knapp 100.000 Einwohnern sind noch 50.000 übrig. Die leeren Wohnblöcke verfallen und warten auf den Abriss. Oder auf die Schrottsammler, die in Gruppen durch die aufgelassenen Plattenbauten streifen und vom Einbauschrank bis zur Waschmittelpackung alles mitnehmen. Torsten Blume von der Bauhausstiftung Dessau freut sich über die Plünderungen, die sogar von den Wohnungsbaugesellschaften genehmigt werden. „Man kann den Abriss nicht aufhalten“, sagt der Kulturwissenschaftler, „aber Neustadt braucht dringend kreative Impulse, und seien sie noch so klein.“

Wenn man viele kreative Impulse bündelt, kann man damit eine ganze Menge retten. Zum Beispiel den ehemaligen S-Bahnhof. Noch vor ein paar Monaten hingen hier die Fetzen von der Decke, die Scheiben der Fahrkartenschalter waren eingetreten, der Abriss schien unausweichlich. Jetzt beherbergt das einstöckige Gebäude die „Internationale Sommerschule Halle“.

Die Sommerschule ist ein Gemeinschaftsinitiative von Thalia Theater Halle, der Bauhausstiftung, dem Projekt Stadtumbau 2010 und der Stadt Halle. Vier Wochen lang setzen sich junge Schauspieler, Gestalter, Architekten und Künstler aus aller Welt mit der bedrohten Lebensform Halle-Neustadt auseinander. Eine Gruppe Architekturstudenten aus Schanghai arbeitete drei Wochen lang an einer stadtplanerischen Vision. Ihre farbenfrohen und ziemlich utopischen Skizzen hängen jetzt in der Bahnhofshalle aus. „Für einen Chinesen ist Leerstand geradezu absurd“, schmunzelt Torsten Blume. „Dort kennt man nur explodierendes Wachstum.“

Wichtig bei solchen Projekten ist vor allem der Mut, sich etwas anderes vorzustellen als die gegenwärtige Realität. Denn die ist traurig. Ein Rundgang zeigt geschlossene Schulen, leer stehende Kaufhallen, verwaiste Spielplätze. Von der Caféterrasse eines 18-Geschossers kann man ganz Neustadt überblicken. „Hier ist ein Gesellschaftsmodell gescheitert“, seufzt Blume und erzählt von der eigenen Kindheit in der Platte, vom Pioniergeist, den jungen DDR-Familien in den funkelnagelneuen Trabantenstädten.

Heute sind über 60 Prozent der Bewohner Rentner, die mit den zuziehenden ausländischen Familien oft massive Schwierigkeiten haben. Vergessen scheinen die Zeiten internationaler Völkerfreundschaft, die ein buntes Wandmosaik noch heute dokumentiert: grazile Afrikanerinnen, freundliche Eskimos, schneidige Kubaner. Die Architektinnen Svea und Katja wollen in der Sommerschule Perspektiven für ein freundlicheres Zusammenleben der Generationen und Kulturen erarbeiten. „Elderly People“ soll den Weg „von HaNeu nach Sun City“ weisen. Für die geplante Feldforschung müssen sich die beiden warm anziehen: Eine erste Kontaktaufnahme scheiterte bereits an gefährlich großen Hunden, die den Hauseingang blockierten.

Auch für Pebert und Effi aus Berlin ist der Kontakt zu den Einheimischen nicht immer einfach. Ihr „Hitlabor Schneller“ verspricht eine Popstar-Karriere in fünf Minuten. Doch das Spiel, in dem sich die Kandidaten auf eine Psychiatercouch legen und nach kurzer Kreativanamnese einen Song basteln, gerät manchmal unversehens zur Sozialarbeit. Wie bei Steve, einem verhaltensauffälligen 15-Jährigen. „Er kommt jeden Tag zu uns ins Studio und will, dass wir seinen Techno-Song ins Fernsehen bringen“, seufzt Pebert. Sein Werk „Tanzen“ wird allenfalls auf der Abschluss-CD des Hitlabors zu hören sein. Dafür legen Pebert und Effi ein paar extraschicke Soundeffekte darunter, „damit Steve happy ist“. Mit solch kleinen Muntermachern hält sich Club Real nicht auf. Die österreichisch-berlinerische Performancetruppe will die totale Zukunftsvision. Ihr dreistündiges Planspiel „Spielhölle Neustadt“ schickt die Spieler ins Jahr 2040. Bewaffnet mit Stadtplan, Würfel und allerlei Kampflisten müssen sie sich durch eine Neustadt schlagen, die sie in der Gruppe selbst erschaffen. Dank der Fantasie eines kleinen Mädchens sind recht viele Zombies, Roboter und Spione unterwegs. Am Ende hüllt Kunstnebel die Bühne ein und der Frieden in der Zukunft ist wiederhergestellt. „Ganze Familien tauchen bei uns in Paralleluniversen ab“, sagt „Club Real“-Mitglied Christoph zufrieden und setzt die Spionenbrille ab. „Es geht nicht um größtmöglichen Ernst, sondern darum, für eine kurze Zeit eine andere Realität zuzulassen.“

„Neustadt braucht kein Gemeindezentrum“, sagt auch Annegret Hahn vom Thalia Theater, „sondern radikale Visionen“. Sie deutet auf ein leer stehendes Ungetüm gegenüber. 1992 bespielte das Thalia Theater den Block mit Erfolg, doch danach verschwand das Kulturvolk wieder in die Altstadt. Frau Hahn hätte da schon eine Idee: „Die Hallenser wollen doch ein neues Museum für moderne Kunst.“ Bis die Hallenser ihre ausgediente Platte von gestern als neue Avantgarde umarmen, wird es wohl noch dauern. Aber dank der Sommerschule ist die Chemie zwischen Alt- und Neustadt schon viel besser geworden.

Internationale Sommerschule bis 2. Oktober, Programm www.is-halle.de