Nachhilfe aus dem Osten

KULTURTRANSFER Das Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg erforscht den Austausch zwischen Orient und Okzident. Diesmal hat man sich die Naturwissenschaften vorgenommen. Das Abendland sieht dabei düster aus: Aus dem Osten kommt das Licht

Die Nadel des Operateurs schiebt sich vor die Linse. Der Assistent beugt sich über das Auge des Patienten und saugt an der Hohlnadel, saugt, bis sich die Linse von den Zonula-Fasern löst. Dass es sich um die Linse handelt, wussten die mittelalterlichen Ärzte nicht. Sie tippten auf Schleim, der vom Hirn herab getropft war. Egal, ihre Methode half – wenn die Operation gelang. Der „Starstich“ rettete Patienten, die an einer Linsentrübung litten, die Sehkraft, auch wenn sie so, ohne Linse, nie wieder scharf sehen konnten.

Lange Zeit hatte man angenommen, dass islamische Ärzte im Mittelalter die Methode mit der Hohlnadel entwickelt hatten. Dann tauchte im Flussbett der französischen Saône eine Bronzehülse auf, die man auf das erste bis zweite Jahrhundert nach Christus datieren konnte. Fünf Nadeln darin bewiesen, dass der Starstich schon in der Antike praktiziert wurde.

Diese fünf unscheinbaren Nadeln sind in der Ausstellung „Ex oriente lux?“ des Oldenburger Landesmuseums für Natur und Mensch zu sehen. Sie zeigt eine enorme Fülle solcher Originalobjekte, die Meilensteine oder wenigstens Wegmarken in der Geschichte der Naturwissenschaften bedeuten: Handschriften, Tontafeln, Laborgerätschaften. Anders als so viele Science-Museen behauptet die Ausstellung, der üppigste Beitrag des Landesmuseums zur „Stadt der Wissenschaft 2009“, eins nicht: dass die Naturwissenschaften eine einzige bunte Spielwiese seien, auf der jeder mitspielen könne, der einen Hebel ziehen oder eine Kugel rollen lassen kann. Ein strenges „Bitte nicht berühren“ steht vielmehr an den historischen Maschinen, die die Physik-Didaktiker der Uni Oldenburg nachgebaut haben.

„Ex oriente lux?“ ist ein neues Projekt in einer ganzen Reihe von Ausstellungen, in denen der Leiter des Landesmuseums, Mamoun Fansa den Kulturtransfer zwischen Orient und Okzident illustriert – bisher vor allem von Ost nach West. Der lateinische Ausstellungstitel bedeutet so viel wie: Kommt das Licht aus dem Osten? „Wenn man die Ausstellung gesehen hat, kann man das Fragezeichen vergessen“, sagt Fansa, der aus Syrien stammt – „oder wir können anfangen zu diskutieren.“

Anfang des Jahres hat er den Weg der Fabeln quer durch Asien und Europa nachgezeichnet: von Mesopotamien ins antike Griechenland, von Indien in die arabische Welt und nach Mitteleuropa. „Ex oriente lux?“ zeigt, dass das mathematische Wissen ähnliche Wege nahm: Der „Satz des Pythagoras“ war schon im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in Babylon bekannt. Das Dezimalzahlensystem kam über den Orient aus Indien. Der Mathematiker al-Hwarizmi, dessen Name später zu „Algorithmus“ verballhornt wurde, erklärte das „indische Rechnen“ im Bagdad des 9. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen.

Die arabische Sprache und der islamische Glaube einten zu dieser Zeit einen Kulturraum von Indien bis Spanien. Hier wurden die überlieferten griechischen, persischen und indischen Schriften erforscht und weiter entwickelt. Kosmopoliten wie der Astrologe Michael Scotus, den es von Schottland ins islamische Toledo und von dort an den Hof Kaiser Friedrichs II. verschlug, oder der Mönch Constantinus Africanus, dessen Weg von Karthago nach Salerno und schließlich ins Kloster Monte Cassino führte, übersetzten die Schriften ins Lateinische und bewiesen, dass auch im europäischen Mittelalter der Horizont weiter reichte als bis zum nächsten Kirchturm.

Warum die Europäer derart auf die Wissensimporte aus dem Osten angewiesen waren, erklärt die Ausstellung nicht. Auch spart sie den Kolonialismus aus. Aber Fansa hat schon das nächste Ass im Ärmel: Für 2010 plant er eine Schau über Lawrence von Arabien. ANNEDORE BEELTE

bis 24.  Januar, Oldenburg, Augusteum