China

Der letzte Wunsch des krebskranken Friedensnobelpreisträgers: "Wenn ich schon sterben muss, dann in Deutschland"

„So schnell es geht!“

Appell Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu über den Tag, an dem er vom dramatischen Zustand Lius erfährt. Er bittet Kanzlerin Merkel, ihm zu helfen

Liu Xia 2012 mit einem Bild aus glücklicheren Tagen Foto: Ng Han Guan/ap

von Liao Yiwu

Die taz bat den bekannten chinesischen Künstler Liao Yiwu, der heute im Exil in Berlin lebt, um einen Kommentar zur Situation ­seines Freundes Liu Xiaobo. Er schickte uns folgende Zeilen aus seinem Tagebuch. Der (hier leicht gekürzt wiedergegebene) Eintrag stammt vom 16. Juni, als er zum ersten Mal erfährt, dass Liu Xiaobo in Lebensgefahr schwebt.

Xiaobo schwebt in Lebensgefahr, während aus Xi Jinpings Mund noch keine „Lockerung“ zu vernehmen ist. Also bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als meinen Tagebucheintrag vom 16. Juni preiszugeben. Da erfuhr ich zum ersten Mal, dass Xiaobo in ­Lebensgefahr schwebt.

***

„Es ist irgendwie merkwürdig: Seit drei Jahren war ich es immer, der Liu Xia [seine Ehefrau, d. Red.] oder Liu Zhong [einen Verwandten, d. Red.] anrief, um mich nach jüngsten Entwicklungen zu erkundigen. Also rief ich gestern wieder da an, mehrfach, ­keiner ging ans Telefon …

Heute Nachmittag rief ich Liu Xia erneut an, wieder ging niemand ans Telefon. Dann erhielt ich nacheinander Nachfragen von Peter Sillem vom Fischer Verlag und von Herta Müller. Ich konnte nur ganz verdattert rumhängen und nichts sagen. Erst um halb fünf nachmittags erhielt ich urplötzlich einen Anruf aus der Familie Liu:

„Familie Liu?“

„Ja, bin’s.“

„Wo brennt’s?“

„Onkel hat Leberkrebs, Metastase im Endstadium.“Ich war mir nicht sicher – Liu Xia, Leberkrebs im Endstadium?!

„Nein, Onkel ist es, er hat Leberkrebs im Endstadium.“

Nach einer Weile Sprachlosigkeit schrie ich fast aus mir heraus:

Liu Xiaobo am Samstag in seinem Krankenbett, umgeben von Ärzten und seiner Frau Liu Xia (am Fußende) Foto: Eyepress/afp

„Xiaobo?“

„Ja. Tante und Papa baten mich, dir möglichst schnell Bescheid zu geben. Aber sag niemandem das weiter, vor allem nicht den Medien.“

„Versprochen. Aber darf ich durch Sonderkanäle hohen Regierungsebenen hier in Deutschland, zum Beispiel Kanzlerin Merkel, Bescheid sagen?“

„Ja, genau das. Genau darum baten sie dich.“

„Liu Xiaobo und Liu Xia baten mich darum?“„Ja! So ist es.“„Ich brauche mehr Infos. Wo ist Xiaobo, im Gefängnishospital?“ Gefangene mit schweren Erkrankungen kommen zuerst dahin. „Oder ist er insgeheim nach Peking ins Krankenhaus eingeliefert worden?

„In einem Krankenhaus in Shenyang [Nordostchina, d. Red.] – Sie halten uns alle hin! Kann nichts machen.“

Mein Vater hatte Krebs gehabt. Ich weiß, dass unter allen Sorten von Krebs der Leberkrebs am schmerzhaftesten ist.

„Darum wollen Tante und Onkel raus, nach Deutschland. So schnell es geht. Onkel sagt: ‚Wenn ich schon sterben muss, dann in Deutschland.‘“

Ich kann meine Tränen nicht mehr herunterwürgen.

Liao Yiwu Foto: Orlowski/reuters

„Bitte, wende dich dringend an Frau Merkel, im Namen von ihnen beiden. Bitte sie, bei ihrem Gespräch mit Xi Jinping klipp und klar zu fordern, dass Liu Xiaobo nach Deutschland kommt, um behandelt, nein, um gerettet zu werden. Du sagtest Tante einmal, dass unter den gegenwärtigen Politikern Frau Merkel die menschlichste und die mit dem meisten Mitgefühl ist. Sie einst hatte dir geholfen. Sie half vielen Flüchtlingen, selbst wenn dies ihr große Probleme gemacht hatte.“

„Darf ich Frau Merkel diese Informationsquelle verraten?“

„Du darfst. Seit über zwei Monaten durch Anträge und Petitionen der Tante erfuhr Onkel erst langsam, was mittlerweile bei uns zu Hause passiert war. Aber er selbst kann es nicht mehr.“

„Alles klar. Gib mir deine Telefonnummer.“Ohne nachzudenken, ja ohne zu verschnaufen, rief ich über Umwege eine Deutsche an und informierte sie über dies alles, was ich gerade erfahren habe. Auch sie war entsetzt und versprach mir, sofort alle Kanäle zu benutzen, um möglichst schnell das Bundeskanzleramt in Kenntnis zu setzen. Aber heute werde es keine beschlossene Lösung mehr geben. Und ich? Ich werde den zweiten Brief um Hilfe an Frau Merkel verfassen, auch wenn der erste noch nicht erwidert worden ist.

Nun schlägt die Situation so urplötzlich um. Es bleibt mir nichts mehr anderes übrig, als den zweiten aufzusetzen.