: Von desolater Seelenlage
Gastspiel Nur noch Bruchstücke von Welt: Als ein Highlight des diesjährigen Festivals „Infektion!“zeigt die Staatsoper Andrea Breths preisgekrönte Inszenierung von Wolfgang Rihms Oper „Jakob Lenz“
von Katharina Granzin
Wie bekommt man den Wahnsinn in die Musik? Das muss schwer sein, in mancher Hinsicht wohl schwerer als in die Literatur, weil in der Sprache sowieso tendenziell unendlich viele Zwischentöne zwischen zahlreichen möglichen Bedeutungsnuancen der einzelnen Wörter schwirren können. Ein Ton aber hat immer dieselben Obertöne und entfaltet seine Bedeutung kaum aus sich selbst heraus, sondern erst im Zusammenklang mit anderen.
Für seine Kammeroper „Jakob Lenz“ (komponiert in den siebziger Jahren) hat Wolfgang Rihm einen musikalischen Weg gewählt, der die krankhafte Existenz seines Helden zwischen Wirklichkeit und Wahn eindrucksvoll einfängt, indem er oft ganz knapp an der Tonalität vorbeiführt. Immer wieder scheinen harmonische Bezüge und geordnete rhythmische Muster auf, setzen sich für Momente durch, um sich wieder in Unkenntlichkeit und schroffe Anti-Tonalität aufzulösen.
Im Rahmen ihres „Infektion!“-Festivals, das sich allsommerlich explizit dem zeitgenössischen Musiktheater widmet, zeigt die Staatsoper derzeit an mehreren Abenden eine fulminante „Jakob Lenz“-Inszenierung von Andrea Breth, die vor drei Jahren in Stuttgart ihre Deutschlandpremiere hatte und 2015 mit dem „Faust“ für die beste Musiktheaterproduktion geehrt wurde.
Georg Büchners Novelle „Lenz“, die von zwei Wochen im Leben des psychisch kranken Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Lenz handelt, diente Rihm für sein Bühnenwerk als Vorlage – und dem Librettisten Michael Fröhling als Textsteinbruch. Regisseurin Andrea Breth begegnet dem Überlappen des Wahnhaften mit dem Wirklichen mit visionärer Strenge und Bildern, die eigene, vielschichtige Deutungsräume aufreißen. Tableaus in Erdfarben, die der Bühnenbildner Martin Zehetgruber in den Raum modelliert hat, umgeben den unglücklichen Protagonisten mit einer zerklüfteten Landschaft aus zeichenhaften Bruchstücken der Welt.
Berge im Schaukasten
Die Berge, in denen Büchners Erzählung spielt, sind nicht als Kulisse vorhanden, sondern nur als ihr eigenes Symbol: wirklichkeitsgetreu nachgebildet in Schaukästen ausgestellt; oder stellvertretend repräsentiert durch eine Szenerie aus großen Gesteinsbrocken, zwischen denen, sanft und unablässig, Wasser hinabläuft zum unteren Bühnenrand.
Nur drei Personen, die mit nennenswerten solistischen Parts versehen sind, agieren in dieser Oper: Lenz, der vom Wahn befallende Dichter, der von seinem Freund Kaufmann ins beschauliche Waldbach geschickt wurde, um beim psychologisch erfahrenen Pastor Oberlin Ruhe und Erholung zu finden. Oberlin (Henry Waddington) selbst, der ganz väterliche Verlässlichkeit ausstrahlt. Und Kaufmann (John Graham-Hall), der in mehrfacher Hinsicht einen Widerpart geben muss zu Lenz und dessen Idealen und Irrbildern. Er repräsentiert die Anforderungen der Außenwelt an einen, der ihr schon längst nicht mehr gewachsen ist. Ein wunderbares Kammerensemble aus sechs GesangssolistInnen, von der Regisseurin in zeichenhafter Aufstellung mal versammelt am Rande, mal verteilt über die Oberbühne drapiert, gibt einen Chor, der meist in homophon-atonaler Führung agiert wie eine einzige, in sich verstimmte Stimme und Lenzens Gesang damit gleichsam ein unbemerktes und doch störendes Unbewusstes hinzufügt.
Und Lenz nun: Es gibt ihn auch als Figur zweimal, denn außer dem Sänger Georg Nigl hängt auch noch ständig ein in die gleiche weiße Unterwäsche oder in den gleichen schwarzen Anzug gekleideter Doppelgänger (Martin Bukovsek) auf der Bühne herum, die er mit einem so überraschenden wie eindrucksvollen Stunt-Auftritt betreten hat.
Unglaubliche Leistung
Der Bariton Georg Nigl aber liefert die unglaublichste Leistung von allen ab. Als Sänger sowieso über jeden Zweifel erhaben, ist er noch in der Lage, die technisch schwierigsten Situationen zu meistern. Sensationell jene Szene, in der Lenz, der sich in einer Übersprungshandlung mit dem eigenen Kot beschmiert hat, weil Selbstmord zu langweilig ist, im Sitzen auf einer Pritsche hüpft und dabei in Diskantlage seine desolate Seelenlage entblößt. Aber eine Extremszene wie diese funktioniert eben auch mit dem besten Sänger nur, wenn dieser gleichzeitig als Darsteller genau weiß, was er tut. Und Georg Nigl zeigt nicht nur in Lenz’ großer Sprechszene – denn während der poetologischen Diskussion, die Lenz und Kaufmann führen, ist Lenz offenbar so klar im Kopf, dass er nicht einmal singen muss –, auch absolut überdurchschnittliche schauspielerische Qualitäten.
Die dreizehn MusikerInnen der Staatskapelle in Kammerbesetzung agieren unter Franck Ollu scheinbar mühelos innerhalb einer scharf kontrastierenden Partitur, die permanent munter die Besetzung mischt.
Der Schlussapplaus kommt wie eine Erlösung aus einer Welt, in der man lieber nicht sehr lange gefangen sein möchte. Und wenn man danach hinaustritt auf die auf einmal erstaunlich freundlich und friedvoll wirkende Berliner Bismarckstraße, kommt es einem so vor, als hätte man gerade etwas erlebt, das, gemessen an Büchners Vorlage, vielleicht nicht im Wortsinne kongenial war, aber doch auf eine eigene Art sehr verstörend.
Letzte Vorstellungen: Mi., 12. 7., und Fr., 14. 7., je 19.30 Uhr
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