Erklären, was nicht zu erklären ist

NEONAZI-AKTEN GESCHREDDERT

Nicht sensibel, ausgerechnet bei dieser Mordserie? Wo, wenn nicht hier, will man sensibel sein?

Eine Sicherheitsschleuse muss passieren, wer den Berliner Verfassungsschutz betreten will. Gläserne Türen, die sich auf Knopfdruck von Männern hinter Scheiben öffnen. Dahinter: lange, bilderlose Gänge, geschlossene Türen.

Hinter einer Tür saß dieser Woche die Chefin des Hauses, Claudia Schmid, eine nüchterne Frau mit Kurzhaarschnitt, und versuchte zu erklären, was nicht zu erklären war. Ausgerechnet ihr Referatsleiter, zuständig für Rechtsextremismus, hatte im Juni 57 Akten über Berliner Neonazis schreddern lassen. 32 Ordner davon sollten archiviert werden.

Es dürfte etwas mit der Sicherheitsschleuse zu tun haben. Hermetisch schirmt sie die Geheimdienstler von der Außenwelt ab. Offenbar so undurchdringlich, dass nicht mal auffiel, dass im letzten November eine Neonazi-Zelle aufflog, die über Jahre unbehelligt zehn Menschen ermordete, Sprengstoffanschläge verübte, Banken überfiel. Dass seit Monaten über das Sicherheitsversagen diskutiert wurde, Ermittler bundesweit Akten sichteten. Zumindest war all dies vergessen, an diesem Junitag hinter der Sicherheitsschleuse.

Einiges weiß man über den 57 Jahre alten Referatsleiter. Sohn eines griechischen Kapitäns, passionierter Reisender, Liebhaber von Balkanmusik. Ein Polizist, seit Jahren auf seinem Posten im Verfassungsschutz. Im Frühjahr berichtete er in der Neuköllner Sehitlik-Moschee über rechte Hetzbriefschreiber.

Ausgerechnet er dachte im Juni nicht an das Staatsversagen in der NSU-Sache, sortierte die Ordner einfach aus zum Häckseln? Stolperte auch nicht über den Namen „Landser“ – die Nazi-Band, die sich mit NSU-Freunden umgab –, als er mit zwei Kollegen stundenlang die Akten zum Schreddern ausheftete? Glauben wir mal seiner Chefin, all dies sei unabsichtlich geschehen, der Mann mit den Gedanken woanders gewesen. Bleibt die Frage: Wenn der Verfassungsschutz hier nicht bei der Sache ist – was taugt er dann für seine Aufgabe?

„Höchst ärgerlich“, nannte Claudia Schmid das Schreddern. „Unentschuldbar“, nannte es CDU-Innensenator Frank Henkel. Als er sich jüngst schon einmal in die NSU-Affäre verstrickte, monatelang über den langjährigen Berliner V-Mann schwieg, fand Henkel eine Entschuldigung: Nicht sensibel genug sei er gewesen. Nun war auch der Referatsleiter unsensibel. Eine schlimme Erklärung: Nicht sensibel, ausgerechnet bei dieser Mordserie? Wo sonst wollen sie sensibel sein?

Henkel sitzt im selben Haus wie der Verfassungsschutz. Wenn diese beiden all das da draußen, die Ermittlungsfehler, den Vertrauensverlust, nicht mehr mitbekommen – vielleicht sollten sie dann mal die Sicherheitsschleuse aufsperren?

KONRAD LITSCHKO

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