Die gekaperte Kirche

Besetzung Nachdem die Kirche ihr Jugendprogramm in Rahlstedt einstellte, enterte die Gruppe Barco Liberado die Thomas-Kirche und baut nun ein eigenes Angebot auf. Der Kirchenkreis unterstützt die Anarchisten dabei, jetzt dürfen auch G20-Camper kommen

Der Infotisch steht schon ganz im Zeichen des G20-Gipfels, auf dem Kirchengelände könnten bald auch noch Protest-Camper Platz finden Foto: Philipp Steffens

von Philipp Steffens

Es ist ein ungewöhnlicher Ort für eine ungewöhnliche Hausbesetzung: Zwischen Bäumen versteckt, steht die Thomas-Kirche in der Meiendorfer Straße im Hamburger Stadtteil Rahl­stedt. An der Fassade hängen Banner, auf denen Solidarität mit anderen Besetzern bekundet wird.

Angefangen hat die Besetzung mit einem anarchistischen Sommerfest im Juni. Die Kirchengemeinde nutzte das Gebäude seit Ende letzten Jahres nur noch spärlich. Das Angebot einer Jugendkirche wurde nicht angenommen.

Die Gemeinde einigte sich daher schnell mit den Besetzern, die geduldete Nutzer wurden: Die Kirche bleibt offen, wenn das neu entstandene selbstverwaltete Zentrum für die Allgemeinheit zugänglich bleibt und die Besetzer die Kosten übernehmen. Dafür dürfen sie ihr unabhängiges Programm aus Kultur und Politik anbieten.

Zur politischen Tätigkeit zählt aktuell auch, dass das Gelände zum Zelten für G20-Demonstranten offen steht. „Wir kritisieren die Stadt scharf für ihre Politik, im Zuge derer sie AktivistInnen ihr Recht auf Protest durch die Einrichtung von Versammlungsverbotszonen, Gefahrengebieten und das Verbot des antikapitalistischen Camps verweigert“, heißt es in einer Stellungnahme auf dem linken Webportal Indymedia. Dafür riskieren die Besetzer auch Besuch von der Polizei, den sie sonst nicht zu befürchten hätten. Der Pressesprecher des Kirchenkreises Hamburg-Ost Remmer Koch sagt, die Kirche dürfe auch dafür genutzt werden, „solange alles friedlich ist und bleibt“.

In den Dreißigerjahren stieg die Anzahl an Gläubigen in Rahl­stedt. Die Kirche in Alt-Rahlstedt hatte zu wenig Kapazitäten, daher musste 1935 ein neuer Gemeindesaal gebaut werden.

Erst 1957 wurde der Saal zu einer Kirche ausgebaut. Eine Vorhalle und ein Altarraum wurden errichtet, das Gebäude umfassend umgestaltet. Der Name Thomas-Kirche kam jedoch erst elf Jahre später.

2012 gab die Gemeinde die Kirche auf

2013 startete der Kirchenkreis dort das Projekt Jugendkirche, stellte dies aber nach vier Jahren wieder ein. Danach stand die Thomas-Kirche leer.

Seit Juni wehen anarchistische Banner am Kirchenturm. Das Gebäude wurde von Linken besetzt.

Im Foyer der Thomas-Kirche stehen zwei Kickertische, ein Billardtisch und ein Stand mit Infomaterial. An den Wänden hängen Zettel, die das Stickern und Sprayen verbieten. Die Aktivisten haben sich das aus Vorsicht selbst auferlegt.

Toni, einer der Besetzer, grüßt aus der Küche, wo er gerade kocht. Er läuft auf Socken über den Steinboden, auf seinem Pulli steht „Feed Bellies Not Bins“, eine Figur beim Containern ist abgebildet. Mit Besuch hat er nicht gerechnet. „Wir wollen niemandem etwas wegnehmen, aber freie Räume nutzen wir“, sagt Toni.

In der Küche steht noch Nick am Herd, in einem großen Saal malt jemand ein Banner. „Gestern war hier ein Vortrag über Postanarchismus, da waren ungefähr 40 Menschen da“, berichtet Toni. Insgesamt gebe es im Kollektiv um die 30 Leute, die größtenteils aus den umliegenden Stadtteilen stammen. Es ist mehr eine Benutzung als eine Besetzung.

Es gibt Räume für Bandproben, eine Tauschbörse und eine Bibliothek. Werkstatträume seien in Planung, sagt Toni. In einem Raum im ersten Stock ist ein Stuhlkreis aufgebaut, auf einem Plakat steht „Barco Liberado“, das A von „Barco“ ist eingekreist. „Das ist der Name, den wir uns gegeben haben“, erläutert Toni. „Barco“ heißt auf Spanisch Schiff, „liberado“ bedeutet befreit. Es ist eine Anspielung auf das Kirchenschiff und die Gebäudeästhetik, verbunden mit dem Wunsch, frei von gesellschaftlichen Zwängen und Hierarchien zu sein.

Bis Ende Juli dürfen sie die Kirche frei benutzen. Für die Zeit danach müssen sie ein Konzept vorstellen, was sie vorhaben und wie sie es finanzieren wollen. Das Gelände kostet den Kirchenkreis 50.000 Euro im Jahr. Die müssen die Besetzern künftig tragen. „Das wird aber definitiv weniger, weil wir für alles jemanden im Kollektiv haben“, versichert Toni. Am Ende blieben wohl nur Strom, Gas und Wasser als Kosten übrig, die über Spenden gedeckt werden könnten.

Die besetzte Kirche bietet einiges an Luxus. Es gibt Strom, warmes Wasser und sogar eine Spülmaschine. Ein ehemaliger Hausbesetzer habe gestaunt, was alles vorhanden ist, sagt Toni.

Die Barcos wollen die Räume für kulturelle und politische Bildung nutzen. Sie protestieren damit nicht direkt gegen Immobilienspekulation oder Gentrifizierung, eher gegen eine Leerstelle in Rahlstedt – eine Leerstelle, die die Kirche nicht füllen konnte und die nun Toni und seine Mitstreiter besetzen.