: Der Traumwürger
In Japan gilt er als Meister, im Westen ist er nur wenigen bekannt: der Regisseur Uchida Tomu (1898–1970). Umso begrüßenswerter also, dass das Japanische Kulturinstitut in Köln ihm in diesem Herbst eine umfassende Retrospektive widmet
VON CHRISTOPH HUBER
Die Filmgeschichte ist voller Löcher; manche werden etwas verschämter gestopft als andere. Zum Beispiel der seltsame Fall von Uchida Tomu (1898–1970): In seiner Heimat Japan genießt er bis heute unbestritten den Status eines kanonisierten Meisters, im Westen war er bis vor kurzem hauptsächlich ein Name ohne praktische Bedeutung: Filmschauen, die sein vielfältiges Werk tatsächlich einmal kompakt erfahrbar gemacht hätten, blieben die längste Zeit aus. Zwar wird Uchida Tomu in Standardwerken zum japanischen Kino diskutiert, vor allem sein realistischer Klassiker „Tsuchi“ („Die Erde“, 1939), doch obwohl einige seiner Filme immer wieder in anderen Zusammenhängen auftauchten (er nahm seinerzeit sogar an den Wettbewerben von Venedig und Berlin teil), ist er außerhalb Japans merkwürdigerweise unbeachtet geblieben. Merkwürdig nicht zuletzt, weil zu den zugänglichen Filmen „Kiko Kaikyo“ („Ein Flüchtling aus der Vergangenheit“, 1965) zählt, ein episches Krimidrama, das zu Unrecht im Schatten entfernt verwandter und leichter einzuordnender Entwürfe auch hier anerkannter Meister blieb: Akira Kurosawas Klassiker „Tangoku to jigoku“ („Zwischen Himmel und Hölle“, 1963) und die etwa zeitgleichen modernistischen Erzählungen von Imamura Shohei.
Dabei ist „Ein Flüchtling aus der Vergangenheit“ einer jener Filme – und beleibe nicht der einzige in Uchida Tomus Werk –, bei denen sofort schlagartig klar wird, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen Regisseur zu tun hat: Ein Dreistünder, schwarzweiß, im Breitwandformat (gedreht auf 16-mm-Material und dann aufgeblasen, was die Körnigkeit extrem verstärkt), meisterhaft in drei Bewegungen ausgeführt. Die erste erzählt packend und aktionsgeladen von der Flucht des zwielichtigen Inaki, der an einem Überfall mit desaströsen Folgen beteiligt war. Die zweite schildert milieurealistisch, wie die Prostituierte, bei der Inaki schließlich Unterkunft fand, in Tokio ein neues Leben beginnt. Bis sie ein Foto in der Zeitung sieht: der geheimnisvolle Unbekannte, dem sie ihr Glück verdankt und an den sie ihr Herz verlor. Sie besucht Inaki, der sich unter anderem Namen eine neue, gutbürgerliche Existenz aufgebaut hat, und ihre Drohung, die Vergangenheit zu enthüllen, führt zu einer neuen Tragödie. Der dritte Teil des Films schildert ein intensives psychologisches Duell zwischen Inaki und Kriminalpolizisten.
Uchida Tomu hat „Ein Flüchtling aus der Vergangenheit“ in virtuoser geografischer Symmetrie gestaltet: Der Originaltitel heißt eigentlich „Meerenge des Hungers“, dort nimmt der Film seinen Anfang, und dorthin bewegt er sich zurück, auf ein abruptes Ende zu, das wesentliche Aspekte der Auflösung im Bereich des Unausgesprochenen lässt. Diverse stilistische Experimente wie die Verwendung von Negativmaterial und eine Betonung schamanischer Elemente verstärken den Eindruck des Wirkens übernatürlicher Kräfte, während im Zentrum des Films eine konkrete historische Leerstelle klafft: Zwischen Inakis Flucht 1947 und dem Wiedereinsetzen der Handlung in Tokio sind zehn Jahre vergangen. Die unmittelbare Nachkriegsgeschichte Japans ist das implizite Sujet des Films, darüber legt sich sich als explizites Sujet Inakis Kampf ums Überleben. Erst im Zusammenwirken der beiden Ebenen erschließt sich die ganze historisch-kritische Dimension des Films.
Diese eigenwillige Form der Komposition kann man als Schlüssel zum Werk Uchida Tomus begreifen: Die Lücke und der Bruch sind für ihn nicht nur wesentliche ästhetische Methoden, sondern haben eine biografische Entsprechung. In der Mitte seiner Filmografie tut sich eine Leerstelle von gut anderthalb Dekaden auf: Nach Kriegsausbruch war Uchida Tomu in die besetzte Mandschurei gegangen, wohl auch, weil er sich fernab der kriegsbedingten Rationierungen zu Hause bessere Arbeitsbedingungen erhoffte. Erst 1953 wurde er repatriiert, zwei Jahre später drehte er seinen ersten Nachkriegsfilm. Über die Zeit dazwischen erfährt man (nicht nur) in seiner Autobiografie kaum etwas.
Diese Jahre sind der Kulminationspunkt einer permanenten Irritation, die vielleicht erklärt, warum der Westen Uchida Tomu so lange ignorierte: Er ist schwer einzuordnen, politisch wie ästhetisch. Er ist offensichtlich ein virtuoser Stilist, doch ohne einen einheitlichen Stil. Ideologisch ist es noch komplizierter: Geboren in eine wohlhabende Familie, wuchs Uchida Tomu augenscheinlich mit idealistisch-progressiven Tendenzen auf. Seine prononcierte Liebe zu allem Westlichen äußerte sich nicht zuletzt in der Wahl des Künstlernamens Tomu, einer Übertragung seines West-Spitznamens Tom, die in etwa „Der Traumwürger“ heißt. Aber schon sein Vorkriegsschaffen, das ohnehin nur so bruchstückhaft erhalten ist, dass sich schwer ein Gesamturteil fällen lässt, ist voller Kompromisse und Ambivalenzen, demonstriert Uchida Tomus lebenslange Neigung zu Erzählungen von den Ausgegrenzten der Gesellschaft ebenso wie seine Faszination für Japans Totalitarismus. Laut zeitgenössischen Darstellungen drehte er linke Tendenzfilme ebenso wie Imperialismusapologien. Um Zensurprobleme zu umgehen, macht er die Gangster im Stummfilm „Keitsasukan“ („Der Polizist“, 1933) zu Kommunisten, und in „Die Erde“, seiner realistischen Schilderung des Lebens von Bauern in Nordjapan, dämpfte er den kapitalismuskritischen Ansatz der Vorlage. Mit „Die Erde“ etablierte sich Uchida Tomu neben seinem Freund Ozu und seinem Lehrmeister Mizoguchi endgültig als einer der drei führenden Regisseure Japans. Doch verwendet wurde der Film nicht im Sinne seiner simplen humanistischen Botschaft: dass es genügen sollte, zu zeigen, wie die Armen leben, um die dringende Notwendigkeit von Änderungen zu demonstrieren. Stattdessen verwendete ihn die Regierung als Propagandafilm zur Steigerung der Lebensmittelproduktion. Diese Erfahrung spielt in Uchida Tomus schillerndem Nachkriegswerk ebenso mit wie die verlorenen Jahre in China: Der Comebackfilm „Chiyari Fuji“ („Ein blutiger Speer am Fuji“, 1955) kündigt nicht nur die Abwendung von Gegenwartsstoffen hin zu Historiendramen an. Im Rückgriff auf das Schwertkampf-Genre, das seit dem Krieg stark an Popularität verloren hatte, kann man auch eine Frage ans klassische Kino sehen: Welche der einstigen Werte sind geblieben, welche haben sich verändert? Lange Zeit schlägt „Ein blutiger Speer am Fuji“ einen gemütlich mäandernden, sanft komischen Ton an, das heftige, tragische Finale betont aber dann genau die Widersprüche, um die es Uchida Tomu immer mehr zu gehen scheint.
Im brillanten Samuraifilm „Sake to onna to yari“ („Sake, Frauen und Speere“, 1960) findet dieser Zwiespalt seinen reinsten Ausdruck: Vor exquisit komponierten, detailprallen Cinemascope-Farbbildern wird von einem Samurai erzählt, der, nachdem ihm ritueller Selbstmord im Gefolge seines Herrn verweigert worden ist, die Freuden eines simplen, besseren Lebens bei Familie, Speis und Trank entdeckt. Der subversive Gestus des Films weicht am Ende der Rückkehr zum Bushido-Code: Der Samurai besinnt sich seiner Pflichten und stürzt sich im Blutrausch in die Schlacht. Ob das bitter-ironisch oder affirmativ ist, bleibt offen.
Eine andere faszinierende Szene zeigt, wie sich der Samurai gelassen besäuft, während sich gut gelaunt Massen an Gaffern zu seinem angekündigten Seppuku-Tod einfinden. Die Parallele zum Filmpublikum ist unübersehbar, die Reflexion seiner Kunst hat Uchida Tomu vorher schon in anderen Werken in den Mittelpunkt gestellt: Eine Hauptfigur des zeitgenössischen Kammerspiels „Tasogare sakaba“ („Twilight Saloon“, 1956) ist ein Maler, der seine Kunst aufgegeben hat, weil sie im Krieg Propagandazwecken diente. Vielschichtiger ist die Konstruktion in der außerordentlichen historischen Bühnenverfilmung „Naniwa no koi no monogatari“ („Eine Erzählung von einer Liebe im alten Osaka“, 1959): Der bedeutende Autor der Vorlage, Chikamatsu Monzaemon, wird als Nebenfigur eingeführt, die sich von den Geschehnissen im Film erst zu seinem Stück inspirieren lässt und den Schluss ändert, weil er glaubt, dass die Kunst zu tieferen Wahrheiten vordringen muss als das Leben. Der Film endet mehrdeutig mit seiner Version, vor ihm aufgeführt als Bunraku-Puppenstück.
Höhepunkt sowohl von Uchida Tomus Arbeit mit theatralischen Mitteln wie auch seines Infragestellens filmischer Darstellungsformen ist schließlich „Koi ya koi nasuna koi“ („The Mad Fox“, 1962), in dem er das Artifizielle in berauschenden Dimensionen betont: Das breitwandbunte Historiendrama um Verrat und Liebe entfaltet sich unter anderem auf Drehbühnen in Van-Gogh-gelb strahlenden Feldern und in Pappmaché-Kulissen, eine weibliche Figur wird durch die Zwillingsschwester und eine Füchsin in Menschengestalt verdreifacht, die Füchse wiederum von Schauspielern mit Masken oder gar kurz als animierte Flämmchen repräsentiert. Die Darstellungsmodi verändern sich in so verblüffenden Abfolgen, dass man vor lauter Verzückung die Regelmäßigkeit dahinter übersehen könnte. „The Mad Fox“ ist vollkommener Ausdruck von Uchida Tomus Vorstellung von Kunst als kontinuierlichem Prozess, der zahllosen Wandlungen und Brüchen unterworfen ist. Der Mittelpunkt des fantastischen Spiegelkabinetts bleibt pikanterweise hypothetisch. Die Träume vom Glück des wahnsinnig gewordenen Helden fallen in einem transzendenten Moment in sich zusammen: Wie von Fäden gezogen kippt das Kulissenhaus, in dem er sie lebte. Der programmatische Originaltitel des Films heißt in etwa „Liebe, Liebe, spiel nicht mit der Liebe“ – und die, bilanziert ein Erzähler, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
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