Thüringen statt Tansania: Grenzerfahrungen mitten im Industrieland
: Auf dem Grünen Band der Sympathie

Wir retten die WeltVonBernhardPötter

Ein Bahnhof wie in der Anfangsszene von „Spiel mir das Lied vom Tod“: zwei Gleise im Niemandsland. Die Sonne brennt vom Himmel. Der Schweiß läuft. Bis zum Horizont sieht man keine Regung. Wir wuchten die Rucksäcke auf die Schultern und gehen los. Vier Tage Wandern auf dem ehemaligen Grenzstreifen zwischen Thüringen und Hessen. Lauf mir den Weg vom Leben.

80 Kilometer auf dem „Grünen Band“, zu dem der ehemalige Todesstreifen geworden ist, sind trotz müder Beine eine Erholung. Der Wilde Westen trifft den Wilden Osten, weil hier 40 Jahre Sperrgebiet war. Meine Tochter und ich traben von Herleshausen bis Bad Soden-Allendorf, mal auf dem alten Beton-Plattenweg der DDR-Grenzer, mal auf dem Werra-Burgen-Steig. Es geht durchs Werrabergland (schon mal gehört? Ich vorher nicht). Es geht durch herrliche Buchenwälder. Unseren Weg kreuzen Füchse, Maulwürfe, Rehe, Bussarde, Armeen von Nacktschnecken und Tümpel voller Karpfen. Wir schlafen im Zelt und tanken aus dem Bach Koch- und Waschwasser, das man wahrscheinlich auch trinken könnte. Das wilde Deutschland.

Und das zivile Deutschland auch: Überall nette Menschen, man kann sie sich als Berliner, der mit Campingausrüstung und Vorurteilen beladen ist, nicht ausdenken: die netten Hausfrauen aus Ifta, die uns ihre leckeren Kuchen aufdrängen. Den alten Bauern in Wolfmannsgehau, der uns mit dem Auto fahren will. Den Exgrenzer, der von seinem Kumpel, dem Republikflüchtling, erzählt. Die Tourismustante in Treffurt, die uns unsere Smart­phones (Fotos!) aufladen lässt. Bruder Rudolf vom Franziskanerkloster Hülfensberg, der uns nasse und kalte Wanderer in seiner warmen Küche mit Tee und Wurstbroten bewirtet. Es ist das „grüne Band der Sympathie“, viel ehrlicher als der alte Werbeslogan der untergegangenen Dresdner Bank.

Das reale Grüne Band ist vielleicht die deutsche Erfolgsgeschichte im Naturschutz: 1.400 Kilometer Exgrenzstreifen durchgehend geöffnet. 146 Biotope, 1.200 Tier- und Pflanzenarten sind durch den schmalen Streifen von ein paar hundert Metern verschmolzen, den die Umweltverbände nach der Wende den Landesregierungen abgetrotzt haben. Ab und zu knabbern Autobahnen, Mais­äcker und Gewerbegebiete an dem Gebiet, das so wichtig ist, weil es zwischen den Agrarwüsten rechts und links Biotope verbindet. Aber im Großen und Ganzen eine einmalige Sache, die durch das europäische Grüne Band von Finnland bis zum Balkan noch erweitert wird.

Die Gegend ist kaum besiedelt, die Jungen hauen ab. Das Grüne Band durchzieht die deutschen „Flyover States“, Gegenden, die man als Großstädter nur als Kulisse hinter dem Autobahnrastplatz oder aus dem ICE-Fenster wahrnimmt. Ich war in den letzten Jahren ähnlich unterwegs im Harz und an der Warnow in Meck-Pomm. Auf der Liste stehen noch Spessart, Rhön, Pfälzer Wald. Unglaublich, was man in Deutschland so erleben kann, wenn man einfach ein paar Stunden Zug fährt, statt ins Flugzeug zu springen. Leute, vergesst den Fernurlaub. Thüringen statt Tansania.

Meine Tochter staunt, wie sentimental ihr Vater wird, wenn er am Aussichtsturm Hel­dra­stein (einem alten Stasi-Horchposten) die Fotos von der Grenzöffnung sieht. Die 15-Jährige kommt bei dem gewundenen Grenzverlauf, dem wir folgen, immer durcheinander, wo nun Osten und wo Westen war. Ein gutes Zeichen.

Es waren nur vier Tage im Juni, aber unsere kleine Tour war ein großer Trost. Wie schnell die Natur zurückkommt, wenn man sie in Ruhe lässt, denke ich, als wir unser Zelt im Grenzstreifen über Kella aufbauen. Statt DDR-Bogenlampen leuchtet uns der Vollmond. Wie schön, dass auch die nächste Generation nur leise motzt, wenn sie mit einem schweren Sack auf dem Rücken durch den Regen marschiert. Und wie viel Hoffnung es gibt, dass aus dieser verdammten Grenze ein Natur- und Geschichtspfad geworden ist – wie viel Wende möglich ist, wenn Menschen sie wirklich wollen.

Nur an Details müssen sie da in Thüringen noch arbeiten. Es gab nirgendwo Rostbratwurst.