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Archiv-Artikel

Wannsee ahoi!

Das neue, zweite Album der Berliner Band Nylon sieht erstmal ganz schön retrolastig aus. Tatsächlich will „Eine kleine Sehnsucht“ aber keine konservative Propaganda machen, sondern hat es eher mit dem, was unserer Gegenwart fehlt

Die Frage, ob Nylon Neocons sind, führt sofort ungefähr nirgendwohin

VON ANDREAS MERKEL

Bereits im Treppenhaus fragt man sich, ob die Frage eigentlich blöd ist. Man ist unterwegs zum Interview mit Nylon, dem neuen Berliner Chanson-Pop-Wunderding, das im letzten Jahr mit seinem um den Hildegard Knef-Schlager „Im 80. Stockwerk“ herumgestrickten Debütalbum „Die Liebe kommt“ Erfolge feierte – und fürs Retro-Trend-Surfen auch einiges an Kritik einstecken musste. Jetzt erscheint „Eine kleine Sehnsucht“, das Nachfolgewerk. Es gibt reichlich Interviewtermine. In einen davon will man vor allem mit einer Frage gehen: Sind Nylon Neocons?

Aber dann wird der Termin vom imperialen Universal-Hauptquartier in die Privatwohnung von Sängerin Lisa Bassenge verlegt, damit die sich um ihr Kind kümmern kann. Und so findet man sich in Kreuzberg wieder, ein altes Mietshaus ohne Klingel- oder Namensschilder, und zur Begrüßung gibt's kein San Pellegrino, sondern Leitungswasser. Hier wohnt sicher kein Westerwelle und kein Poschardt, alles wirkt so überaus bekannt und wenig befremdlich, fast ist man schon befangen – und fragt sich das mit der Frage.

Man wird freundlich, aber reserviert von Lisa Bassenge und ihren Bandkollegen Paul Kleber (Bass) und Stefan Rogall (DJing) begrüßt – Hagen Demmin und Arnold Kasar fehlen – und lässt sich erst noch mal die Nylon-Geschichte erzählen: Wie sich die fünf Berliner Musiker schon ewig aus diversen auch nicht eben erfolglosen Formationen und Projekten kennen – dem Lisa Bassenge Trio, Micatone oder Atomhockey. Wie sie im Frühjahr 2004, quasi als Resultat einer Kneipenidee, Nylon gründen. Wie ihnen mit Cover-Versionen alter Hits von Marlene Dietrich bis Manfred Krug der Einstieg in die Top-100-Albumcharts gelingt und sie immerhin 13.000 Exemplare verkaufen.

Wie sie dann aber auf der an den Charteinstieg anschließenden Clubtour bemerken, dass ihre live immer mal wieder eingestreuten Eigenkompositionen wie das schmissige Ideal-Zitat „Kurze Weile“ die eigentlichen Stimmungsmacher sind. Und wie sie daraufhin beschließen, das neue Album verstärkt mit Selbstkomponiertem zu bestücken – ohne debei ganz auf die alten Cognacschwenker-Hymnen eines Friedrich Holländer verzichten zu wollen.

Zu Hause, beim Probehören hat das Ergebnis dieser Strategie auf CD gut funktioniert: elektronisch gedubbte, angejazzte Melancholie, die wie ein Soundhimmel über der Großstadt schwebt, geerdet durch ein paar tanzbare Auflockerungen im vorsichtigen Uptempo-Bereich. Das Ganze sehr erwachsen-nüchtern produziert.

Und dazu Lisa Bassenge sehr präsent im Vordergrund, versiert die Balance haltend zwischen Intimität und Distanz. Mit einer Stimme, die einen eben noch in den schönsten Träumen wiegt und im nächsten Augenblick schon eine kühle Zickenhaftigkeit entwickelt. Das hört sich an, als ob sie einem erst naiv Gänseblümchen verspräche – um im Zweifelsfall aber doch lieber mit der Kreditkarte durchzubrennen.

Dann aber doch noch mutig diese Frage gestellt: Seid ihr neokonservativ, habt ihr einen dementsprechenden Wertekanon? Oder warum sonst starrt ihr auf dem neuen Albumcover so nostalgisch im Matrosen-Look in die Goldenen Zwanziger zurück?

Diese Frage führt sofort ungefähr nirgendwohin. Einfach niemand kann etwas mit ihr anfangen. Lisa Bassenge gibt sie einfach zurück – „Findest du unsere Texte konservativ?“ –, und mit Stefan Rogall einigt man sich schnell auf Referenzgrößen wie Prefab Sprout und den im Pop so überlebenswichtigen Eskapismus: „Etwas Schönes, auch Romantisches liefern, das in der Gegenwart fehlt.“

Das sagt er so unbeholfen und offen wie anrührend. Und man denkt wieder: Wie mühsam und unter welchem Legitimationsdruck Hörer wie Musiker in der nicht-englischsprachigen Welt eben immer noch POP hinterherbuchstabieren müssen!

Beim Konzert auf dem Treptower Badeschiff, wo Nylon in einer klaren Augustnacht „Eine kleine Sehnsucht“ erstmals präsentierten, war eine Freundin. Die meldete sich irgendwann um halb zwölf vollkommen begeistert per Handy: „Du solltest hier sein!“

Im Hintergrund hörte man Nylon, die von einer Bühne auf der Spree aus den Strand bespielten. Lisa Bassenge sang gerade „Wannsee ahoi“, und es klang durchs Mobiltelefon wie von sehr weit weg und gleichzeitig so vertraut wie ein großer Hit.

„Eine kleine Sehnsucht“ von Nylon erscheint heute bei Boutique/Universal