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Das Oktoberfest des Nordens

Kieler Woche An diesem Sonnabend startet das größte Sommerfest in Nordeuropa. 500 Künstler bieten auf 2.000 Terminen 100 Stunden Programm. Plastkiktüten und -becher sind tabu, und gesegelt wird nebenbei auch noch. Der Historiker Oliver Auge weiß, wie die Kieler Woche entstand und warum sie heute so ist, wie sie nun mal ist

Interview David Joram

taz: Herr Auge, ergänzen Sie bitte: Die Kieler Woche ist für Kiel …Oliver Auge: … zu dem Wahrzeichen schlechthin geworden.

Wenn Sie einen Vergleich ziehen müssten?Dann ist es das Münchner Oktoberfest des Nordens. Ein Muss für eigentlich jeden Kieler!

Auch die Kieler Woche bietet ein Bayernzelt und ruft damit zu Münchner Folklore auf. Woher rührt der Hang zum „Dirndltum“?Das ist einfach zur Referenz für Volksfeste geworden und ein Auswuchs des Oktoberfests. In Kiel ist das Bayernzelt aber schon seit Olympia 1972 Tradition; der Legende nach als Geschenk der damaligen Olympiapartnerstadt München.

Wann hat sich die Kieler Woche vom reinen Segelwettbewerb zum Volksfest entwickelt?In der Weimarer Zeit begann man, das Sportfest auszuweiten. Bis dahin war die Kieler Woche vor allem ein Segelfest, ein Fest auf dem Wasser. Der Segelsport war aber ein Sport der Eliten, nur die obersten Schichten der Gesellschaft konnten sich das leisten. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und in Folge der Revolution wollte man den Demokratisierungsgedanken auch auf die Kieler Woche anwenden. Die breite Masse, die Arbeiter, sollten am Fest teilhaben, nicht mehr nur die Eliten.

Wie ging es weiter?

Neben der klassischen Kieler Woche fand mehrere Jahre lang eine Herbstwoche statt. Die spiegelte den Volksfestcharakter eher wider. Die Nationalsozialisten wollten schließlich wieder zu den Anfängen zurück und das Sportliche mehr herausstellen. Kiel sollte zum „seglerischen Nürnberg Deutschlands“ werden. Dort die Reichsjugendspiele – und in Kiel sozusagen die Wasserspiele, alles unter der parteipolitischen Maxime der NSDAP.

Was blieb vom Volksfestcharakter übrig?

Ganz zurückdrehen ließ sich der nicht mehr. Und 1936, als auch die olympischen Segelwettbewerbe in Kiel stattfanden, nutzten die Nationalsozialisten diese natürlich für Propagandazwecke – und als Volksfest. Der Event-Charakter im heutigen Sinne – mit Showacts, Ausstellungen und dergleichen – wurde aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig angefacht.

Wer waren die treibenden Kräfte hinter dieser Eventisierung?

Etwa Andreas Gayk, Kiels SPD-Oberbürgermeister ab dem Herbst 1946. Er hat die Kieler Woche als Volksfest maßgeblich etabliert. Gayk war – wenn die Beschreibungen stimmen – kein Freund des Segelns. Segeln bedeutete für ihn Bourgeoisie, Konservatismus, und stand letztlich für die Elite, die sich zuvor eng mit den Nationalsozialisten eingelassen hatte. Gayk, der Sozialdemokrat, vertrat aber die Arbeiter. Er wollte einen Gegenakzent im Sinne der Demokratie setzen, sodass alle was vom Fest haben.

Es heißt, in den 1970er- und 1980er-Jahren habe sich die Kieler Woche zum offenen Stadtfest ausgeweitet. Woran lässt sich das festmachen?Es herrschte eine Wachstums­euphorie, man wollte damals auf alles noch mal einen draufsetzen. Vielleicht auch, weil die Stadtväter ihr neues Kiel präsentieren wollten, ein selbstbewusstes. Eines, das aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs neu entstanden war und das trotz erster Werftkrisen so schlecht nicht dastand. Zusätzlich lag der sportliche Fokus wegen Olympia 1972 auf Kiel.

Sie vergleichen die Kieler Woche mit dem Oktoberfest. Nur wäre München ohne Oktoberfest immer noch München, während Kiel – nun ja …

Offiziell würde das niemand so sagen, aber dieses Mega-Event gleicht wahrscheinlich schon ein paar Defizite aus. Dass Kiel keine Unesco-Altstadt wie Lübeck hat oder keine so der Welt zugewandte Stadt ist, wie es Hamburg gerne sein möchte, ist doch bekannt. Aber in diesen zehn Tagen Kieler Woche ist die Welt eben doch in Kiel zu Hause. Das betont und lebt man auch, etwa durch die Vergabe des renommierten Kulturpreises in dieser Woche.

Oliver Auge

46, ist seit 2009 Professor für Regionalgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel mit Schwerpunkt Geschichte Schleswig-Holsteins in Mittelalter und Früher Neuzeit. Der gebürtige Göppinger (Baden-Württemberg) hat gerade ein Buch zur Kieler Stadtgeschichte verfasst und ein Kapitel der Kieler Woche gewidmet.

Das linke Bündnis „War starts here in Kiel“ demonstriert am 20. Juni gegen eine Konferenz des Instituts für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel, die etwa Fragen der Kriegsführung in Küstengewässern thematisiert. Woher rühren die militärischen Wurzeln der Kieler Woche?

1882 begann alles als Segelregatta, die man 1894 erstmals Kieler Woche nannte. In diese Zeit fiel auch das weltweite maritime Wettrüsten. Kaiser Wilhelm II. bemerkte rasch, dass sich die Kieler Woche als maritimes Schaulaufen ideal eignete. Neue Schlachtschiffe wurden präsentiert, natürlich vor den Augen der eingeladenen anderen Nationen, die hier ebenfalls ihre Kriegsschiffe vorführten.

In Kiel heuerten also auch die Mächtigen der Welt an?

Durchaus, die Kieler Woche galt schnell als wichtige diplomatische Bühne, wo etwa der belgische König oder der Zar von Russland auftauchten. Als 1914 bei der Kieler Woche das Attentat von Sarajevo bekannt wurde, wurde die Veranstaltung vorzeitig beendet. Das britische Kontingent setzte beim Aufbruch nach Hause das Signal „Friends for now and friends forever“ – einen Monat später brach der Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien aus.

Nach der Nazi-Zeit wurde hinter das Marinekapitel kein Schlusspunkt gesetzt. Warum gab es keine klare Zäsur?Kiel wollte zunächst eigentlich keine Marinestadt mehr sein. Letztlich barg die Wiederstationierung der Marine aber ein zu großes wirtschaftliches Potenzial; und mit der Wiederbewaffnung ab 1955 kam es prompt wieder zu Flottenbesuchen bei der Kieler Woche. Insgesamt ist der militärische Aspekt aber zu einer wirklich kleinen Nische geschrumpft.

Es gibt dieses Jahr eine „Kieler Woche inklusiv“. Inwiefern kann die Kieler Woche Impulsgeber für gesellschaftliche Fortschritte sein?Vielleicht werden dadurch tatsächlich neue Potenziale geweckt, dass man immer auch aktuelle Entwicklungen aufgreift und sie dann spielerisch umsetzt oder dem Fest implementiert. Es bietet sich an, weil die Kieler Woche ein Fest für alle sein soll. Und das in vielerlei Hinsicht für lau.

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