: Rebellion in der Vitrine
Kunst Mit „Artpool“ zeigt das Studienzentrum für Künstler-publikationen in der Weserburg eine der wichtigsten Sammlungen ungarischer Gegenkultur der Sowjetzeit
von Radek Krolczyk
Eine Reihe farbiger Siebdrucke hängt in der kleinen Schau zum Wirken eines großen Kunstarchivs im Studienzentrum für Künstlerpublikationen in der Weserburg. Die Blätter zeigen insgesamt sechzehnmal das Selbstportrait eines bärtigen Mannes – Györgi Galántai, Künstler und Gründer von „Artpool“. Sein Gesicht ist verzerrt, es wechselt innerhalb der Serie die Farbe, zerfällt in kleine gelbe Partikel, wird zerschnitten in Quadrate und fadet zu den Rändern hin aus. Der Siebdruck war 1976, als diese Serie entstand, in Ungarn neu – zumindest als leicht zugängliche Vervielfältigungstechnik. Künstlerische Techniken wie diese wurden in den Ostblockstaaten erst rund zehn Jahre später populär. Auch die Ästhetik erscheint uns heute recht gewöhnlich – für Galántai war diese Art der Verfremdung des Abbildes des eigenen Gesichts experimentell. Die Ausstellung ist dem ungarischen „Artpool“ gewidmet.
Gemeinsam mit der Künstlerin Julia Klaniczay gründete Galántai dieses Archiv 1979 zunächst illegal im sozialistischen Ungarn. Gesammelt wurden Ton- und Bildaufnahmen von Performances und Happenings sowie im ungarischen Kunstuntergrund veröffentlichte Zeitschriften, Drucke und kleine Plastiken. Im Mittelpunkt des Interesses standen die in den 1970er-Jahren entstehenden künstlerischen Undergroundbewegungen. Solche kleinstauflagigen künstlerischen Publikationen sind nun in Tischvitrinen in der Weserburg ausgestellt.
Gleichzeitig taten sich Galántai und Klaniczay mit „Artpool“ auch als Herausgeber und Initiatoren von Ausstellungen und verschiedenen Veranstaltungen hervor. Ebenfalls als Herausgeber von Publikationen wie jener Mappe, in der Galántais eingangs erwähnten Portraits versammelt sind. Die Selbstportraitsammlung gehört zu den ersten Veröffentlichungen, die „Artpool“ unter erschwerten Bedingungen, also in der Illegalität, publizierte.
Dem staatssozialistischen Ungarn waren selbst künstlerische Aktivitäten, die sich jenseits seines Einflussbereichs abspielten, suspekt. Darin ähnelt es dem autoritären Ungarn von heute. Hier hat auch die Siebdruckserie ihren Ausgangspunkt. Denn entstanden sind sie während einer Depressionsphase des Künstlers, bereits einige Jahre vor der Veröffentlichung. Da hatte der ungarische Staat bereits zugeschlagen und Galántais künstlerische Arbeit unterbunden. Das war 1973. Drei Jahre vorher hatte er damit begonnen, im ländlichen Umland von Budapest in einem verlassenen Kloster einen Ort für experimentelle Kunst zu etablieren.
Die Behörden hatten Gelántais Off-Space geschlossen und ihn auf diese Weise seines künstlerischen Wirkungsfeldes beraubt. Darauf zurückzuführen sind die degenerierten Selbstportraits. Wer ist man noch als Künstler, ohne die Möglichkeit, künstlerisch arbeiten zu können? Belegt mit einer Art Berufsverbot? Bereits auf dem Umschlag der Mappe verschwimmt mehrfach der Name „Györgi Galántai“.
Seit 1966 hatte Galántai in Balatonboglár von der katholischen Kirche ein kleines Kloster angemietet, in dem er sein Atelier untergebracht hatte. Von 1970 an nutzte er das Gebäude für Ausstellungen und Kunstaktionen. In der ungarischen Szene wurde der Ort bald bekannt, und auch ausländische Künstler, so etwa Timm Ulrichs, Jochen Gerz, Clemente Padin und Chieko Shiomi, kamen nach Balatonboglár. Galántais Kloster entwickelte sich in den wenigen Jahren seines Bestands zu einem wichtigen künstlerischen Zentrum in Südosteuropa. Die Dokumentationen der Ausstellungen und Aktionen, die im Kapellenstudio stattfanden, bilden den Grundstock der Sammlung des Archivs von „Artpool“.
Die Polizei schikanierte die Betreiber und Besucher des Studios von Anbeginn. Ausweiskontrollen und Durchsuchungen standen auf der Tagesordnung, gelegentlich wurden dabei auch Kunstwerke beschädigt. Nicht zuletzt aus dieser Bedrohung heraus entstand das Bedürfnis nach einer informellen Institution, die sich dem Bewahren der klandestinen künstlerischen Produktion widmet. Heute verfügt „Artpool“ über eine der wichtigsten Sammlungen zur Undergroundkultur der Ostblockstaaten.
Ein Schwerpunkt des Archivs und seiner Aktivität bildete die Mailart. In den 1970er- und 1980er-Jahren existierte rund um den Globus eine rege Szene, die auf dem Postweg Kunstwerke in Umlauf brachte. Diese kleinen Kunstwerke hatten auch die Form postalischer Gegenstände. Es handelte sich dabei um Postkarten, Briefmarken oder Stempel. Nicht selten wurden auf diese Weise politische Botschaften in Umlauf gebracht. Vor allem in Osteuropa und Lateinamerika war Mailart auch ein politisches Medium. Einige der von Galántai gestalteten Postkarten und Briefmarken sind ebenfalls in der Weserburg zu sehen.
Die Ausstellung ist bis zum 3. September zu sehen.
Der Autor ist Betreiber der Galerie K’.
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