: „Rita“ kommt von Süden her
AUS HOUSTON, TEXAS,MICHAEL STRECK
Richard Aguilar geht auf Nummer sicher. Schon um sechs Uhr morgens wartet er in der Lobby des „Alden“-Hotel auf einen Wagen, der ihn zum Flughafen Houston bringen soll. Seine Maschine geht zwar erst um drei Uhr am Nachmittag, aber für die rund zwanzig Kilometer dorthin plant er sieben Stunden ein – mindestens. Über das Radio kam gerade die Meldung, dass die Flugabfertigung sich schon jetzt um Stunden verzögert, weil Fluglotsen und Schalterpersonal entweder im Stau festhängen oder auf der Flucht vor dem Hurrikan „Rita“ sind.
Richard Aguilar, der gepflegte Mann in weißem Hemd und feinem schwarzen Zwirn, ist mittlerweile, dreieinhalb Wochen nach „Katrina“, ein routinierter Flüchtling. „Das Wort Flüchtling nimmt niemand hier gerne in den Mund“, sagt er und grinst, „das erinnert zu sehr an Dritte Welt.“ Ein „Evakuierter“ oder „Gestrandeter“ also ist Aguilar, 43 Jahre alt, Rechtsanwalt aus New Orleans. Zuerst floh er vor „Katrina“ mit seiner Familie zu Verwandten nach Baton Rouge, der Hauptstadt Louisianas. Dort leben derzeit zwölf Menschen unter einem Dach. Aguilars Kanzlei unterhält ein zweites Büro in Houston, Texas, in dem er unter der Woche arbeiten kann. Doch auch hier werden nun alle Schotten dichtgemacht. Hurrikan „Rita“ nimmt die texanische Küste ins Visier.
Während Aguilar in der Lobby auf den bestellten Wagen wartet, überprüft er ständig im Computer den vorhergesagten Verlauf von „Rita“. Er kombiniert die Daten mit seinem eigenen Erfahrungsschatz. Aguilar ist mittlerweile eine Art Hurrikanologe: Weiß alles über Sturm, so wie Österreicher alles über Schnee wissen. Und kennt eine Website, auf der sein geflutetes Haus in New Orleans zu sehen ist. Er wird es wieder aufbauen, sagt er.
Ein Hotelgast, der auch zum Flughafen muss und dessen Taxi verschollen ist, bittet, mitgenommen zu werden. Kein Problem, meint Aguilar, vorausgesetzt, sein eigener Fahrer taucht hier langsam mal auf.
Zum späten Nachmittag hin soll das „Alden“ geschlossen werden, erzählt der Mann an der Rezeption. Er selbst will dann versuchen, sich nach Dallas oder Austin zu Freunden durchzuschlagen. Beide Städte sind rund dreihundert Kilometer entfernt. „Egal“, sagt er, „Hauptsache weit weg ins Landesinnere.“
„Gehen Sie jetzt!“
Draußen liegt noch die Dämmerung über der Stadt. Nur die verschlungenen Highway-Brücken und Ausfallstraßen bilden rot-gelbe Bremslichterketten, die sich zäh vorwärts schieben. Irgendwann steigt ein glühender subtropischer Sonnenball am Horizont auf. Der Anblick versöhnt für einen Augenblick mit dem Albtraum der unzähligen Menschen in ihren Autos, er lässt vergessen, was dieser Stadt morgen blüht.
Mehr als eine Million Menschen nehmen seit zwei Tagen Reißaus. Es ist vielleicht die größte Flucht in der amerikanischen Geschichte. Die eindringlichen Worte der Bürgermeister der Golfküstenstädte zeigen Wirkung: „Die Zeit der Warnungen und des Wartens ist vorbei, gehen Sie jetzt!“, lautet ihre Botschaft. Es sei besser, im Stau zu stecken, als einen geliebten Menschen zu verlieren. In der Post-„Katrina“-Ära sind die Helden und Überlebenskünstler von einst, die lieber ausharren und den Elementen trotzen, in der Minderzahl.
Auf dem Highway, eingeklemmt zwischen den Blechkisten, lässt sich eine Soziologie des Besitzes erstellen. Was nehmen Menschen in Eile mit, was ist ihnen das Wichtigste, welche Habseligkeiten werden im knappen Autoraum verstaut? Hunde, immer wieder Hunde. Vor allem bei Weißen. Es folgen Motorräder und Boote, manchmal Pferde. Ein Kofferraum voller Fotos und Videos, die eine schwarze Familie mit sechs Kindern, die gerade auf einem Parkplatz rastet, neben der nötigsten Wäsche mitgenommen hat. „Alles, was zählt, sind doch die Erinnerungen“, sagt die Mutter. Welch Glück, verglichen mit denjenigen Armen und Alten, die kein Auto haben und auf ihre Evakuierung mit Bussen warten müssen. Sie dürfen jeweils nur einen kleinen Koffer mitnehmen.H
Die Flucht macht den Highway zum ungewohnten Lebensraum. Menschen führen ihre Hunde auf den Grünstreifen aus. Raststätten werden zu Spiel- und Marktplätzen. Kinder, befreit von der Qual, Stunden im Auto zubringen zu müssen, spielen und toben am Straßenrand. Benzin wird gegen Wasser getauscht. Müsli-Riegel gegen Cola. Leute studieren gemeinsam Straßenkarten, um dem Verkehrschaos zu entgehen.
Die Vorstädte von Houston hingegen veröden. Die riesigen Parkflächen vor den Einkaufszentren sind leer. Die Menschen stehen fassungslos vor geschlossenen Fastfood-Läden. Motels sind verbarrikadiert. Niemand arbeitet. Alle stehen im Stau.
Hier sucht sie die wohl schwerste Erschütterung des American Way of Life heim: Es gibt kein Benzin. Das Grundrecht „Benzin ist billig, überall und zu jeder Zeit verfügbar“ ist plötzlich außer Kraft getreten. Kaum etwas irritiert Amerikaner so sehr. Können sie bewundernswert geduldig mit einer Geschwindigkeit von fünf Meilen pro Stunde fahren, bringt sie Benzinknappheit schon mal aus der Fassung.
Die Behörden geloben Besserung. Doch das hilft vorerst nichts – die Tankstellen bleiben dicht, die Zapfsäulen verplombt. An den wenigen geöffneten bilden sich lange Warteschlangen. Die totale Autogesellschaft blockiert sich selbst: Die Nachfrage ist riesig, die Straßen sind verstopft, Benzinlaster stecken fest, und Raffinerien stehen still. Die Katastrophenplaner versprechen den vielen liegen gebliebenen Autofahrern, das Lebenselixier per Luftbrücke einfliegen zu lassen.
Doch bis es so weit ist, bitten Radiosender, funktionierende Tankstellen zu melden. Überhaupt ist das gute alte Radio in diesen Krisenzeiten das Medium der Stunde. Ob Christenfunk, Country-Station oder Schmuddeltalk, alle verkünden Hurrikan-Überlebenstipps sowie das Einmaleins vom Energiesparen: Motor abstellen und Klimaanlage runterfahren.
Keine Frage, Texas und Washington haben ihre Lektion aus „Katrina“ gelernt. Ob offizielle Katastrophenmanager oder der Mann auf der Straße – die Schmach von New Orleans taucht in jedem Gespräch auf. Die Evakuierung – immerhin eine noch größere logistische Herausforderung als vor dreieinhalb Wochen, weil Houston zehn Mal so viele Einwohner hat wie New Orleans – scheint effektiver zu laufen. Der Chef der staatlichen Katastrophenbehörde hat erklärt, hunderte Lastwagen mit Fertigmahlzeiten, Eis und Wasser seien vor Ort, ebenso Ärzte und Rettungspersonal. Das Pentagon ist mit dem Einrichten von Lazaretten beauftragt. In mehreren Großstädten haben schon die ersten Notunterkünfte geöffnet.
Fünftausend Nationalgardisten sind in Texas mobilisiert. Sie kümmern sich vor allem um arme und alte Menschen, die entweder kein eigenes Auto haben oder nicht mehr fahren können. Notrufnummern, bei denen ein Abholservice bestellt werden kann, werden immer wieder in Radio und Fernsehen angesagt. Allein gestern meldeten sich dort zehntausend Menschen, die nun in Bussen evakuiert werden. Am gleichen Tag wurden außerdem neuntausend Menschen mit Hubschraubern aus Krankenhäusern und Altenheimen ausgeflogen.
Dennoch, nicht jeder ist zufrieden. Ein Paar, das noch nach Oklahoma unterwegs ist – das ist in etwa so, als wolle jemand mal eben von Berlin nach Warschau fliehen –, hinterfragt wie viele andere auch den Sinn einer Rettungsaktion, die Millionen Menschen nahezu zeitgleich evakuiert. „Wir haben doch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera“, moniert die Frau: „Entweder wird unser Zuhause verwüstet – oder wir sind hier, im Auto eingesperrt, dem Sturm ausgeliefert.“ Angesichts dieser Aussicht räumen selbst örtliche Katastrophenhelfer ein, dass auch die Flucht keinen sicheren Schutz bietet.
Ruhe in Downtown
Am Donnerstagabend ist Houston entvölkert. An einem Restaurant werden im letzten Dämmerlicht noch rasch Spundwände gegen die Fenster genagelt. Gelegentlich taucht eine Polizeistreife auf. Die Hitze drückt. Eine Läuferin joggt durch die Häuserschluchten und verschwindet in einem Hotel. Surreal.
Vier Herbergen in Downtown HHouston bleiben noch geöffnet. Sie dienen der Stadt als Notunterkünfte. Ein Kaffeehausbetreiber will weitermachen. Er hat nur noch Bier und Kuchen im Angebot. Vereinzelt sitzen Schwarze an Bushaltestellen. Keiner weiß, ob überhaupt noch Busse fahren.
Nichts am Abendhimmel verrät den heranrasenden Sturm.