: Mittig grün
Die Grünen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Darauf seien sie stolz, sagt Kontext-Autor Thomas Rothschild und regt sich mächtig darüber auf
von Thomas Rothschild
Man kann es nicht mehr hören. Als Winfried Kretschmann zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, schallte es durch die Lande. Als Fritz Kuhn zum Stuttgarter Oberbürgermeister gewählt wurde, folgte das Echo. Und nun, da gegen alle Vorhersagen eine Kirchenfrau zur halben Kandidatenspitze der Grünen im Bund gewählt wurde, ertönt das Echo des Echos. Die Wahrheit ist genau dort eingetroffen, wo auch die Grünen Frau Göring-Eckardt zufolge angekommen sind: in der Mitte der Gesellschaft. Also im Spiegel und all jenen Medien, die seine „Erkenntnisse“ wiederkäuen.
Die ganze Wahrheit freilich lautet, dass die Grünen schon lange vor Kretschmann, Kuhn und Göring-Eckardt in der Mitte der Gesellschaft, also bei jenem Bürgertum, um dessen Gunst sich auch CDU, FDP und SPD balgen, angekommen sind. Sie sind angekommen wie Carl Sternheims Bürger Schippel in der Respektierlichkeit des Justemilieu. Neu ist, dass die Grünen das nicht etwa bestreiten, sondern damit prahlen. Sie sind stolz darauf. Früher versuchten sie noch, den Anschein zu erwecken, dass sie ihre Herkunft aus dem antibürgerlichen Protest und einer emanzipatorischen Utopie nicht ganz vergessen haben. Irgendwie verbat ihnen ein gesundes Schamgefühl, die Vergangenheit vieler ihrer Protagonisten in einer antikapitalistischen Partei oder Sekte dorthin zu verbannen, wohin ihre Eltern die Nazivergangenheit entsorgt hatten: ins Arsenal der verrosteten Waffen. Heute verlassen sie sich auf das schlechte Gedächtnis ihrer Wähler und die Umarmungsmanie der Bourgeoisie: Der reuige Sohn, die bußfertige Tochter – sie sind stets willkommen im Mief der Selbstzufriedenheit.
Es geht um Macht und um sonst nichts
Winfried Kretschmann wird nicht müde, den Medien zu bestätigen, dass mit linker Politik keine Mehrheit zu gewinnen sei, und er kann sich des Beifalls seiner Gesprächspartner sicher sein. Die Absage an eine linke Politik und die Ankunft in der Mitte der Gesellschaft wird von jenen, die sich stets in der Mitte und rechts von ihr befanden und für die linke Politik des Teufels ist, bejubelt. Ob Kretschmanns These zum Verhalten der Mehrheiten ein für alle Mal – sie gilt ohnedies nur für Deutschland, nicht global – richtig ist, sei dahingestellt. Von Bedeutung aber ist, was sich aus ihr ergibt, wenn man an sie glaubt. Früher haben Parteien und die Redlichen unter ihren Repräsentanten eine bestimmte Politik angestrebt und verfolgt und versucht, eine Mehrheit dafür zu gewinnen. Heute wollen die Grünen à la Kretschmann, wie schon lange vor ihnen die Sozialdemokraten, eine Mehrheit gewinnen, und richten die Politik, die sie machen, danach aus. Die Mehrheit ist nicht der Weg zum Ziel einer für richtig gehaltenen Politik, sondern die Politik ist der Weg zum Ziel der Mehrheit. Mit anderen Worten: Es geht um Macht und nichts sonst.
Angesichts dieses Politikverständnisses und dieses neuen Typs von Politikern darf man sich über die Politikverdrossenheit junger Menschen nicht wundern. Die Intelligenteren unter ihnen wollen nicht zu bloßen Mehrheitsbeschaffern erniedrigt werden. Sie wollen den austauschbaren Kandidaten nicht nur eine Politik bestätigen, mit der man eine Mehrheit gewinnen kann, eine Politik, die der Mitte der Gesellschaft behagt. In der sozialen Wirklichkeit nimmt die Zahl derer, die aus dieser Mitte verjagt, ins Prekariat exiliert werden, täglich zu. Sollen sie sich ausgerechnet von jenen vertreten fühlen, die sich um den Herd der bürgerlichen Mitte drängeln?
Eine linke Politik ist von den Grünen nicht zu erwarten
Und die verbliebenen Linken? Was haben sie von einer Partei zu erwarten, die sich rühmt, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein, wo mit einer linken Politik keine Mehrheit zu holen sei? Die Verführung zur Selbsttäuschung ist groß, und die Rede vom kleineren Übel verlockend. Aber wer sich nicht in die Tasche lügt, muss zugeben: Die Grünen, wie sie sich heute darstellen, sind für Linke der politische Gegner. Dass sie ihrerseits die Linken als Gegner betrachten, deuten sie ihren neuen Freunden bei jeder Gelegenheit mehr oder weniger diskret an. Dass es einzelne Menschen bei den Grünen gibt, deren politische Ansichten und erst recht deren persönliche Qualitäten man schätzt, ändert nichts an dieser Lage. Solche Menschen gibt es auch in der Sozialdemokratie und sogar in der CDU. Wer aber eine grundlegende Veränderung dieser Gesellschaft wünscht, hin zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenwürde, wer also, mit einem Wort, eine linke Politik erhofft, mit der man angeblich keine Mehrheit und somit keine Ministerämter und Pfründe gewinnen kann, hat von den Grünen nichts zu erwarten. Und wer das nun für Miesmacherei hält, möge die Politik von Kretschmann, Kuhn und Göring-Eckardt aufmerksam beobachten. Wir sprechen uns wieder. Und werden gerne eingestehen, dass wir unrecht hatten. Die Chancen sind nicht sehr groß.
PS: Wer vor zwanzig Jahren in den USA gesagt hätte, mit einem farbigen Präsidentschaftskandidaten sei keine Mehrheit zu gewinnen, hätte kaum Widerspruch erfahren. Zu den wenigen erfreulichen Tatsachen unserer Gegenwart gehört es, dass ein Afroamerikaner Präsident der Vereinigten Staaten werden kann und das, gerade in Deutschland, wahrgenommen wird, als sei es immer schon das Normalste von der Welt gewesen. Das Beste, was man dazu sagen kann, ist: Es fällt nicht auf. Wer Barack Obamas Wahl rassistisch kommentiert, riskiert, nicht nur als reaktionär, sondern als schwachsinnig zu gelten. Es gibt also Veränderungen, die zu Optimismus berechtigen. Man darf hoffen, dass auch ein Kretschmann, der so genau weiß, womit Mehrheiten zu gewinnen sind, einmal des historischen Irrtums überführt wird.