piwik no script img

Meister des Illusionsgewerbes

(ALB-)TRAUMWELT Wenn andere schlafen, arbeitet er – und Düsternis begleitet sein Werk. Der belgische Künstler Hans op de Beeck ist nun in Wolfsburg zu entdecken

Für Hans op de Beeck haben die Brombeeren die Funktion der Proust’schen Früchte Foto: Abb.: Kunstmuseum Wolfsburg

von Ronald Berg

Man meint, in einen Albtraum versetzt worden zu sein. Der ganze riesige Raum eines offenbar reichen Kunstsammlers hat alles, was man über eine solch exzentrische Existenz fantasieren könnte: von afrikanischen Masken in altmodischen Museumsvitrinen über an Früchten drapierte Totenschädel und modern-abstrakten Plastiken bis hin zu einer stattlichen Bibliothek und einem Seerosenteich mitten im Raum. Auch ist die Szenerie mit einigen teils stehenden, teils liegenden und Jungen- und Mädchenfiguren bevölkert. Entsetzlicherweise ist alles zu einem faden Grau versteinert – von den (halb‑)nackten Leibern der Kinder bis hin zu den Blüten (im künstlichen Wasser). Alles ist Beton. Der ganze Raum mit seinen 240 Quadratmetern stellt sich dar als übergroßes Memento mori.

Doch die Traumszene ist noch viel größer, denn auch hinter der Tür der betonierten Gefilde geht es weiter. Jetzt betritt man eine mit dürren Bäumchen ausgestattete Terrasse mit Blick herab auf einen nächtlichen Ort, in dem zwischen Vorstadthäuschen und Industriegebäuden einsam und menschenleer ein Springbrunnen plätschert. Alles liegt in düster-spärlichem Licht, gerade genug, um sich zu orientieren. Die reale Außenwelt, aus der man hier hineinversetzt wurde, scheint inzwischen weit entfernt und der vorbestimmte Weg führt hinab über eine Treppe in den verwunschenen Ort, von dem man nicht weiß, was er an Absonderlichkeit noch offeriert. Gewiss scheint nur, dass da noch mehr sein muss, was es zu entdecken gilt.

Schließlich preist das Kunstmuseum Wolfsburg dieses Eintauchen in eine hoch artifizielle und elaborierte Traumwelt als „Retrospektive“ des Künstlers Hans op de Beeck. Der 48-jährige Belgier ist hierzulande nicht sonderlich bekannt, trotz einer langen Liste von internationalen Ausstellungen. Doch das könnte und sollte sich mit diesem „Gesamtkunstwerk“ auf insgesamt 2.200 Quadratmetern bald ändern.

Op de Beeck hat Kunst studiert, verbindet in seinen Arbeiten aber vieles mit dem Theater. Das kommt nicht nur daher, dass seine Kunstwerke oft so groß sind, dass man in ihnen wie in „Kulissen“ umhergehen kann. Manchmal ist ihr Maßstab auch merklich geschrumpft. Wie in „Staging Silence“. Die Videoinstallation findet im Inneren eines der Häuser statt, die man von der Terrasse im oberen Geschoss des Museums sah. Im diesem fast programmatischen Video vollzieht sich die permanenten Verwandlung einer gerade mal einen Quadratmeter kleinen und zuerst leeren Guckkastenbühne: Hände schaffen die Requisiten heran, aus einer Glühbirne wird eine Sonne, aus Zimmerpflanzen wird ein Urwald, aus Schokoladenriegeln das Kopfsteinpflaster einer Straßenszene. DieMagie der Verwandlung ist offensichtlich und dennoch –oder gerade deshalb – so illusionär.

Op de Beeck will nicht täuschen. Er will Kunstfertigkeit vorzeigen, und er will in diese Kunstfertigkeit entführen. Und dies gelingt hier wie insgesamt bei den rund ein Dutzend Installationen durch die Evokation der dem Betrachter eigenen Imagination. Diese füllt die Szenerie auf. Und op de Beeck verführt ihn dazu mit allen Tricks, die das Illusionsgewerbe zu bieten hat: mit vagem Dunkel, mit leisen, sphärischen Klängen oder durch den Wiedererkennungseffekt solch geläufiger Szenen wie beim „Table“. Der Raum mit der Kaffeetafel ist diesmal ganz in Weiß gehalten bis auf die halb verspeisten Obsttorten auf Tellern und Platten und den zerdrückten Zigarettenstummeln in den Aschenbechern. Die ganze Szenerie ist aber im Maßstab 1,5:1 vergrößert. Der Betrachter findet sich so in der Position eines etwa sechsjährigen Kindes wieder.

Melancholie und Wehmut

Op de Beeck träumt oft in diesem Maßstab. Und er arbeitet nachts, wenn andere schlafen. Erinnerung und Traum, vielleicht auch Traumata, das ist es, woran Op de Beeck hier appelliert. „Out of the Ordinary“ lautet der doppelsinnige Titel der Ausstellung. „Kunst gibt dem Leben Sinn, irgendwie allein durch Mimesis“, sagt op de Beeck. Kunst und Traum benutzen bei ihm die gleiche Sprache. Kunst und Traum verarbeiten dieselbe Alltagswelt.

Doch Melancholie und Wehmut umwehen eigentlich alle Szenen bei op de Beeck: ob beim verlassenen Rummelplatz im nächtlichen Schnee oder bei der einsamen, graufarbenen Dachkammer mit ihren spärlich möblierten Interieur aus Tisch und Stuhl im (höchst kunstvoll erzeugten) Streiflicht eines späten Sommertags. Auf dem Tisch versteinerten Brombeeren, die Proust’schen Früchte für op de Beeck, deren Geschmack verlorene Zeit zurückholt.

Op de Beeck schafft Räume – ob installativ oder im Film, die das Zeitgefühl verändern, wo Ruhe einkehrt, wo Kontemplation herrscht. In „Location“, der frühesten Arbeit von 1998, gibt es in der miniaturisierten Straßenkreuzung im schneebestäubten Nirgendwo keine Bewegung, kein Geschehen, keinen Menschen, nur den Wechsel der Ampellichter. Und auch hier tritt die Fantasie nun umso mehr auf den Plan. Op de Beeck zeigt also, dass die vielzitierte Immersion durchaus kein Effekt des virtuellen Hightech sein muss. Vielmehr hat es das Eintauchen in eine jenseitige, andere und surreale Welt schon immer gegeben. Jedem ist diese Welt im Traum geläufig, op de Beeck operiert ihre Szenerien nur gleichsam heraus und macht sie mitunter begehbar. Begreifbar macht er sie nicht, auch wenn es sich nun um handfeste Gebilde handelt. Und gerade das macht ihre Qualität aus.

Bis 3. September, Kunstmuseum Wolfsburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen