: Irre Wendungen
Champions League An einem großen Abend scheitert der FC Bayern bei Real Madrid an Details. Schiedsrichter Kassai wird zum Sündenbock, Philipp Lahm wird ganz vergessen
Aus Madrid Florian Haupt
Wenn ein großer Spieler geht, erinnert er sich noch mal an große Schlachten. Auch Philipp Lahm hat das getan in den Tagen von Madrid, leise und fast unbemerkt, wie es seine Art ist. Natürlich erwähnte er das Halbfinale 2012, als sein FC Bayern bei Real im Elfmeterschießen triumphierte. Die Münchner hatten sich über Jahre zusammengefunden, nun näherten sie sich dem Höhepunkt einer Ära. Lahm, Schweinsteiger, Neuer, Boateng, Müller, Robben, Ribéry.
Allein Schweinsteiger war nicht mehr dabei, als ein großer Teil dieser Ära am Dienstag im selben Santiago Bernabéu zu Ende ging. Der Kapitän all der Jahre, das Eigengewächs aus München-Gern, der überragende europäische Außenverteidiger seiner Generation – er bestritt sein letztes Europacup-Spiel. Es war ähnlich eng wie damals, es hätte wieder alles passieren können, nur schwang das Pendel diesmal zur anderen Seite, zu der von Madrid, mit einem fulminanten 4:2 nach Verlängerung.
Der Fußball gibt und der Fußball nimmt. So hätte es Lahm womöglich ausgedrückt, hätte ihn spätnachts nicht die Dopingkontrolle an finalen Reflexionen zu seiner 112 Spiele langen Champions-League-Karriere gehindert. Aber so ein Satz wäre wohl sowieso ungehört verhallt. Dafür war dieses Spiel viel zu grell, und dafür war zu vielen Bayern viel zu sehr an Brachialem gelegen, allen voran dem Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge, der nach einem ersten Kabinenbesuch von einer „Mannschaft in Trümmern“ sprach und sich auf dem nächtlichen Vereinsbankett wie schon etliche Spieler zuvor den Schiedsrichter vorknöpfte: „Wir sind beschissen worden.“
Die Fehler von Viktor Kassai, erst zugunsten der Bayern (dubioser Elfmeter zum 1:0, Abseits beim 2:1), später gegen sie (Gelb-Rote-Karte für Arturo Vidal nach korrektem Tackling, Abseits beim 2:2 und 3:2) waren allerdings nur eine Zutat zu einer Partie, die ihren Ruf als „europäischer Clásico“ eindrucksvoll untermauerte. Es gab Heldentum wie das des angeschlagenen Mats Hummels, über weite Strecken bester Bayer, ehe er just vor Madrids entscheidenden Toren nur noch humpeln konnte. Da waren irre Drehungen und Wendungen, da war ein vierfacher Weltfußballer, der lange schwach spielte, sogar Murren der eigenen Fans ertragen musste und am Ende doch als Triumphator ging. Fünf Tore schoss Cristiano Ronaldo in beiden Partien, drei allein in Madrid. „Ich verlange keinen Straßennamen“, sagte er danach augenzwinkernd, während sie im Bernabéu glückstrunken seinen Namen sangen. „Ich bin zufrieden, wenn die Leute nicht mehr pfeifen.“
Und sonst? „Diese Mannschaft versteht zu leiden“, sagte Ronaldo. Wohl wahr, Madrid hat zuletzt mehr knappe Spiele – unter anderem zwei Champions-League-Finale – gewonnen als andere in ihrer ganzen Geschichte. Vom Siegermentalität spricht man gern, und für die waren auch die Bayern mal bekannt. Nun scheinen sie diese Schlüsseltugend verloren zu haben. Dass sie beim vierten Ausscheiden nacheinander gegen ein spanisches Team diesmal die Verlängerung erreichten, mag man als Fortschritt sehen. Und inwieweit der Mangel an Konkurrenz in der Bundesliga nicht doch die Wettkampfhärte beeinflusst, bleibt ebenso eine spannende Debatte wie die über die fällige Erneuerung. Ribéry, 34, ist über dem Zenit, Müller, 27, in der Dauerkrise, neben Lahm wird auch Xabi Alonso aufhören, aber nach der ernüchternden Hinspielpleite war der Auftritt in Madrid couragiert genug, um beim Umbruch kühlen Kopf bewahren zu können.
Den Münchnern fehlten die viel beschworenen „Details“. Von den anderthalb Elfmetergeschenken über beide Partien nahmen sie nur eines an. Carlo Ancelotti wechselte zweimal in fatalen Momenten seinen Strategen Alonso aus, im Hinspiel räumte er damit eine Autobahn zum eigenen Tor frei, im Rückspiel gab er Vidals Dauerbewerbung um den Platzverweis weiteren Spielraum. Aber auch Madrid machte einiges falsch, unfähig, sein Interesse an einem ruhigen Spiel durchzusetzen. Schon in der ersten Halbzeit ging es von Strafraum zu Strafraum, ohne Mittelfeld, mit kaum zu ertragender Intensität. Als Real das 2:2 geschafft hatte, kniete sich Casemiro wie von Sinnen auf den Rasen und trommelte auf den Boden. Es war diese Art von Spiel.
Wahrscheinlich läuft etwas falsch im Fußball, wenn danach nur über den Schiedsrichter gesprochen wird. Definitiv läuft etwas falsch, wenn der wahrscheinlich beste deutsche Fußballer des letzten Jahrzehnts und langjährige Kapitän der Bayern vom eigenen Chef bei der Bankettrede mit keinem Wort erwähnt wird. Philipp Lahm wird die Missachtung durch Karl-Heinz Rummenigge verschmerzen können. Die Bayern hingegen werden einem wie ihm wohl noch nach Generationen nachtrauern.
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