: Der Kampf um den Rückspiegel
Eine EU-Vorschrift für den Krümmungswinkel der Banane braucht es nicht. Der Krümmungswinkel des Außenspiegels an einem Lastwagen kann eine Frage von Leben und Tod sein – deshalb sollte sich die EU-Kommission darum kümmern
BRÜSSEL taz ■ Wenn Patrick Legenhuis aus seinem Hochhausbüro auf das Gewusel im Brüsseler Feierabend-Verkehr blickt, nimmt sein Gesicht einen bekümmerten Ausdruck an. „Für die Marktharmonisierung haben wir alles getan. Aber wo bleibt der Alltag?“ Es sind die Altfahrzeuge, die ihm Sorgen machen, genauer gesagt: die Lkws und ihre Einrichtungen für indirekte Sicht. So heißen bei den Juristen die Rückspiegel. Seit diesem Jahr gibt es eine Richtlinie, die die Vorschriften der Mitgliedstaaten für Außenspiegel an fabrikneuen Lastern angleicht. Das entsprechende Gesetz für alte Lkws lässt auf sich warten. „Das ist der Binnenmarkthorror. Unsere Gesetzgebung schafft gleiche Bedingungen für Neufahrzeuge. Für bereits zugelassene Kfz gilt sie nicht.“
Ein kühler Ingenieur, der mit kühlem Metall zu tun hat, sollte man meinen. Doch so ist es nicht. Dem Kommissionsbeamten liegt das Thema so am Herzen, dass er mit Journalisten darüber spricht, obwohl das von den Vorgesetzten nicht gern gesehen wird. Deshalb darf sein richtiger Name nicht in der Zeitung stehen. „Ich bin also jetzt der Laster“, sagt Legenhuis und haut seine Handkanten rechts und links auf die Tischplatte, wo seine Karosserie seitlich enden würde. „Ein zusätzlicher vierter Spiegel rechts außen kann zwar den toten Winkel von 38 auf 4 Prozent verkürzen. Doch den Kopf des Kindes, das weiter vorne rechts am Straßenrand steht, sieht der Fahrer dann nicht mehr.“
Legenhuis hat selbst einen kleinen Sohn, der gern auf Brüssels holprigen Straßen skatet. Vielleicht lässt ihn das Thema deshalb nicht kalt. Wenn er morgens zur Arbeit geht, achtet er nicht auf Automarken, Lackierungen oder Zierleisten. Seinen Blick ziehen die seitlich an Lastern und Bussen befestigten verchromten Konstruktionen magisch an. Für Legenhuis besteht die Verkehrswelt aus Außenspiegeln.
In Deutschland hat der Unfalltod des neunjährigen Dersu, der vor einem Jahr auf einer verkehrsreichen Straße in Berlin-Charlottenburg von einem abbiegenden Laster überfahren wurde, die Diskussion in Gang gebracht. Zwar äußerte ein Gutachter im Prozess Zweifel daran, dass ein zusätzlicher Spiegel den Jungen ins Blickfeld des Fahrers gerückt hätte. Doch der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) und Bürgerinitiativen sammelten Spenden, um ältere Laster mit dem so genannten Dobli-Spiegel auszurüsten. Von der Bundesregierung forderten sie ein entsprechendes Nachrüst-Gesetz, wie es in Belgien und Holland bereits besteht.
Der Fachmann in der EU-Kommission würde sich natürlich wünschen, dass die Spiegelfrage in der EU einheitlich geregelt wird. Schließlich machen Lkw-Transporte nicht an der Landesgrenze Halt. Doch technisch ist die Sache knifflig. Bei den so genannten Sprintern, wo die Spiegel in die Karosserie eingelassen sind, ist eine Nachrüstung sehr schwierig. Bei Modellen, wo ein Zusatzspiegel möglich ist, bringt er als Nebenwirkung die eingeschränkte Sicht nach vorn mit sich. Noch komplizierter wird es, weil in der EU-Kommission ein neues Zeitalter angebrochen ist. Schlanke Bürokratie soll mit Hilfe von so genannten Impact-Studies erreicht werden. Bevor ein Gesetz den Institutionen zur Beratung zugleitet wird, müssen Kosten und Nutzen gegeneinander aufgerechnet werden. Nur ein paar dutzend Tote können europaweit jedes Jahr eindeutig der Tatsache zugeordnet werden, dass der tote Winkel im Blickfeld des Unfallfahrers zu groß war. „Die Nachrüstung ist nicht superkosteneffizient“, gibt Legenhuis zu. Sein zweifelnder Blick sagt, dass er dieses Argument nicht wirklich überzeugend findet.
Das Wirken des belgischen Ingenieurs hat Spuren in der europäischen Gesetzgebung hinterlassen. Detektivisch einkreisen lässt sich das Werk seiner Abteilung auf der Eur-lex-Seite des Servers Europa. Die Anfrage nach den im Jahr 2005 gültigen Rechtsakten erbringt 20.138 Ergebnisse, darunter Mindestanforderungen für Schokolade, Hopfen und die Ansäuerung von Wein. Zum Stichwort Verkehr finden sich immerhin noch 16.543 Bestimmungen für den gleichen Zeitraum.
Richtlinien zur Verkehrssicherheit gibt es nur 90 – und die Richtlinie 2003/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. November 2003 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Typgenehmigung von Einrichtungen für indirekte Sicht und von mit solchen Einrichtungen ausgestatteten Fahrzeugen sowie zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG und zur Aufhebung der Richtlinie 71/127/EWG (Text von Bedeutung für den EWR) ist eine davon.
Sie muss 2007 in allen Mitgliedstaaten umgesetzt sein. Da aber in den letzten zwei Jahren neues Spiegelglas entwickelt wurde, kann ein Weitwinkelspiegel nun einen Krümmungsradius von 400 mm statt – wie in der Richtlinie verlangt – 300 mm erzeugen. Das lässt den toten Winkel deutlich schrumpfen, ohne die Sicht des Fahrers nach vorn einzuschränken. Deshalb will die Kommission nun „auf dem kleinen Dienstweg“ nachrüsten. Im so genannten Kommitologie-Verfahren, also im zuständigen Ausschuss der Fachbeamten aus den Mitgliedstaaten, soll die Anpassungsrichtlinie durch gewunken werden. Würde das Gesetz durch Rat und Parlament bugsiert, würde es bis zur Umsetzung zwei Jahre dauern. Bis dahin gibt es wahrscheinlich längst Spiegelglas mit noch günstigerem Krümmungswinkel.
„Jeder langjährige Kommissionsbeamte kennt Vorschriften, die überflüssig geworden sind“, räumt Legenhuis ein. Deshalb findet er die Aufräumaktion von Industriekommissar Verheugen gut. Doch er hält nichts davon, dass sich die Kommission, wie von Präsident Barroso propagiert, aus den Detailfragen in Zukunft heraushält. „Wenn das den Nationalstaaten überlassen wird, zerfällt der Binnenmarkt.“ Bei der Entschlackungskampagne werde vergessen, dass die Gesetzgebung nur eine Reaktion sei auf eine kompliziert gewordene Welt, vor deren negativen Auswirkungen der Bürger geschützt werden müsse.
Dem Druck der Industrieverbände entgeht auch der Ingenieur in seinem Hochhausbüro nicht. Die Lobbyisten finden einen Weg, ihre Informationsmappen auf seinen Schreibtisch zu packen. Doch wenn wieder mal ein Kind im toten Winkel stand und vom Laster überfahren wurde, wenn die Boulevardpresse sich des Falles annimmt und Zusatzspiegel fordert, dann, sagt Legenhuis nachdenklich, „dann sind die Lobbyisten oft die Gejagten“.
Daniela Weingärtner