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Archiv-Artikel

Schule stottert

Tim kann sich das Grinsen kaum verkneifen. In einem Sketch klaut er Jule gerade die Schokolinsen. „Guck mal, der hat ja einen Schokoladenmund“, ruft Jule. Das Besondere: Tim, Jule und die anderen Kinder, die an diesem Abend auf dem Bundeskongress der Stottererselbsthilfe ihre Sketche aufführen, stottern. Im wirklichen Leben. Auf der Bühne sprechen sie an diesem Abend flüssig.

Dieser Effekt ist lange bekannt. Mit dem Rollenspiel verändert sich die Selbstwahrnehmung; dies trägt dazu bei, den Teufelskreis aus Sprechangst, Stottern und Scham zu durchbrechen. „Stottern wird durch die Entstehung von Scham überhaupt erst chronisch“, sagte Ev Wiese, Psychologin aus Österreich, beim Stotterer-Kongress vergangenes Wochenende.

Scham über ihr Stottern entsteht bei Kindern meist erst mit dem Eintritt ins Schulalter. Die Schule hat also eine zentrale Rolle, einen günstigen Umgang mit Stottern zu vermitteln und das Selbstwertgefühl der stotternden Kinder zu stärken. Lehrende sollten daher wissen, welche Verhaltensweisen Stottern verstärken. Frontalunterricht zum Beispiel, also eine Situation, die zum Sprechen vor der ganzen Klasse zwingt, erzeugt Stress und verstärkt meist die Stottersymptomatik. Auch Schüler der Reihe nach dranzunehmen, Stotternde zu unterbrechen oder ihnen vermeintlich dabei zu helfen, indem man ihren Satz zu Ende spricht, verstärkt die Sprechangst.

Neue Lernformen sind daher gefragt. Das sind Unterrichtsformen, bei denen Schüler miteinander agieren und in kleineren Gruppen kommunizieren. „Ein Unterricht, der kooperatives Handeln fördert, statt den Leistungswettbewerb zu forcieren“, sagt etwa die Sprachheiltherapeutin Angelika Schindler, „kann keinen Stotternden heilen. Er kann aber bewirken, dass SchülerInnen aktiver am Unterrichtsgeschehen teilnehmen.“

Während es in England bereits eine strukturierte Aufklärungsarbeit in den Schulen übers Stottern gibt, ist man davon hierzulande noch weit entfernt. Den Nachteilsausgleich, auf den alle Schüler mit Handikap Anspruch haben, handhabt jedes Bundesland anders. Auch der Infobus der Stotterer-Selbsthilfe, der mit seiner Aktion „Stottern und Schule“ durch die Republik tourt, bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein. Jules Mutter und Tims Eltern haben sich mit anderen im Elternworkshop zum Erfahrungsaustausch getroffen. Die achtjährige Jule ist beides, in der Therapie – und stolz: „Na und? Manchmal stotter’ ich eben!“

BIRGIT FREUDENTHALMARTINA RAPP