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Genügsame Blutsauger

AUSSAUGEN Blutegel-Therapie hilft unter anderem bei Gelenk­erkrankungen und Sportverletzungen. Über 200 Wirkstoffe im Speichel der Weichtiere tragen zur Heilung bei

Dürfen nach getaner Arbeit in den „Rentnerteich“, wenn sie Glück haben: Blutegel in der medizinischen Praxis Foto: Stephan Jansen/dpa

von Milena Pieper

Eine leichte Schleimspur zieht sich die Glaswand entlang, während der Blutegel langsam nach oben kriecht. Das große Einmachglas mit dem durchlöcherten Deckel ist mit Wasser gefüllt. Vier weitere Egel haben sich mit ihren Saugnäpfen an das Glas gesaugt. Noch sind sie relativ dünn und klein, zwischen drei und fünf Zentimeter lang. „Die werden bei der Behandlung deutlich größer“, sagt Dörte Schönfeld. „Jetzt sind sie ausgehungert, die haben seit mindestens drei Monaten nichts gefressen.“ Die Heilpraktikerin arbeitet seit acht Jahren mit den Blutsaugern. „Das ist bei vielen Sachen eine super Option“, sagt sie. „Ich liebe das.“

Besonders bei Erkrankungen wie Arthrose, Arthritis, Gicht oder bei Blutergüssen und Sportverletzungen setzt sie die Tiere ein. Angefangen hat Schönfeld mit Akupunktur. „Ich kam bei einer Arthrose nicht weiter und da dachte ich, ich kann das mal ausprobieren“, sagt Schönfeld, deren Mutter als Heilpraktikerin ebenfalls mit den Blutsaugern arbeitete. Bei einer Fortbildung lernte Schönfeld, die Egel gezielt einzusetzen.

Die medizinische Verwendung von Blutegeln hat eine lange Tradition. Schon die Ägypter der Pharaonenzeit kannten ihre heilende Wirkung. Heute werden die Egel auch in der modernen Medizin wieder mehr eingesetzt.

Andreas Michalsen, der an der Berliner Charité-Universitätsmedizin forscht, setzt sich in seinen Publikationen mit der Blutegel-Therapie auseinander. Er hat mit seinem Team bereits vier Studien zur Kniearthrose sowie eine zur Daumenarthrose durchgeführt. Die heilende Wirkung der Behandlung habe sich dabei immer wieder bestätigt. „Die Beschwerdelinderung lag ungefähr bei 50 bis 65 Prozent“, sagt Michalsen.

Der Effekt der Therapie halte bei den meisten Patienten drei bis sechs Monate an. Grund für die Verbesserung sei wahrscheinlich die Wirkung des Egel-Speichels. „Man hat inzwischen schon über 200 Inhaltsstoffe identifiziert. Die meisten dieser Substanzen sind entzündungshemmend und schmerzlindernd“, erklärt Michalsen.

Schönfeld setzt je nach Körperstelle meist zwei bis sechs Blutegel ein, die sich ansaugen und die Haut aufritzen. „Man merkt ein Beißen“, sagt eine Patientin. Sie hat die Therapie schon einmal gemacht, doch so richtig gewöhne man sich nicht daran, sagt sie.

Die meisten Patienten finden die kleinen Blutsauger zuerst etwas eklig. „Ich hatte mal einen Mann, der gar nicht hingucken wollte. Der hat die ganze Zeit Zeitung gelesen“, sagt Schönfeld. Und eine Frau, die schon zwei oder drei Mal bei ihr war, bringt immer ein Handtuch mit, das sie um ihr Bein bindet. „Damit die Egel auf keinen Fall hoch kriechen“, sagt Schönfeld. Das könne aber sowieso nicht passieren, denn wenn die Tiere sich erst einmal festgesaugt haben, bleiben sie an derselben Stelle sitzen, bis sie voller Blut sind und dann abfallen.

Der anfängliche Ekel verfliege aber meist schnell. „Fast jeder guckt dann hin und findet das spannend.“ Eine ältere Dame habe den Tieren Namen gegeben und wollte sie sogar am liebsten mitnehmen, sagt Schönfeld. Sie weiß selbst, wie sich die Egel auf der Haut anfühlen. „Ich bin so der Typ, der alles ausprobieren muss, bevor er es seinen Patienten zumutet“, sagt sie. Beim ersten Mal, im Nacken, habe sie gar nichts gespürt. „Aber als ich sie dann mal am Daumen angesetzt habe, da wusste ich, was die Leute meinen!“

Hirudo medicinalis ist der medizinische Name des Blutegels.

An beiden Enden hat er Saugnäpfe, mit denen er sich an seinem Wirt festsaugt. Im vorderen Saugnapf befindet sich die Mundöffnung.

Auf den drei Kieferleisten des Egels sind etwa 80 winzige Kalkzähnchen verteilt.

Von einer Blutmahlzeit kann der Egel bis zu zwei Jahre überleben.

Alle zwei bis zehn Tage häutet er sich komplett. In dieser Zeit beißt der Egel sich nicht fest.

Schönfeld ist gerade dabei, die Egel mit einem kleinen Gläschen am Knie der Patientin zu platzieren. Fünf sollen es werden. Während der Behandlung, die meist zwei bis drei Stunden dauert, ist die Heilpraktikerin die ganze Zeit dabei. Zur Sicherheit hat sie mehrere Egel bestellt, denn manchmal haben die Blutsauger auch keine Lust. Dann muss Schönfeld einen anderen Egel nehmen. „Die Blutegel sind sehr sensibel“, sagt sie. „Im Winter dauert’s länger als im Sommer, und bei Gewitter oder wenn sie sich häuten, beißen sie nicht.“ Die Patienten müssen ihre Haut vorher mit warmem Wasser abspülen. Auch Rauchen oder viel Knoblauch essen können sie vorher nicht, denn das werde alles über die Haut wieder abgegeben. „Die Egel brauchen Haut und Schweiß pur“, sagt Schönfeld.

Am liebsten behandelt die Heilpraktikerin Knie oder Füße. „Da bekomme ich in 90 bis 95 Prozent der Fälle eine positive Rückmeldung. Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert, bevor sich die Patienten unters Messer legen.“ Vor der Behandlung müssen sich die Patienten ausführlich informieren. „Das ist eben nicht alltäglich“, sagt Schönfeld und zeigt Fotos, auf denen ein Fuß und ganz viel Blut zu sehen sind. Der Wirkstoff Calin hält die kleine Bisswunde mehrere Stunden offen und sie blutet nach.

Deshalb sei es natürlich besonders wichtig, sauber zu arbeiten. „Das ist eine Riesensauerei, das erzähle ich zwanzig Mal während der Behandlung, aber es zu erleben, ist dann was anderes.“ Wie die Patienten auf die Behandlung reagieren, sei natürlich unterschiedlich, sagt Schönfeld. Anfangs können sich blaue Flecken bilden und die Wunde verkrustet. Damit sich Blut nachbilden kann, müsse nach einer Behandlung immer eine Pause von mindestens drei Monaten folgen.

Die Blutegel bestellt Dörte Schönfeld bei der Biebertaler Blutegelzucht in Hessen. Nach der Behandlung werden die Egel normalerweise getötet. Doch seit ein bis zwei Jahren gibt es eine andere Möglichkeit. „Das ist allein für’s Karmasammeln ganz nett. Man kann die Egel zurück zur Zucht schicken und dann kommen sie dort in einen Rentnerteich.“