: Jede Welle ist eine Frau
Kunst Im Schweizer Bergdorf Lens im Wallis zeigt die Fondation Pierre Arnaud eine große Ausstellung zum Symbolismus
Von Brigitte Werneburg
Die extrem schmalgliedrige, langbeinige und gertenschlanke junge Frau mit den raspelkurzen schwarzen Haaren, die nackt im Fels des baumfreien Hochgebirges sitzt und selbstversunken in die Ferne schaut: Heute würde man sie wohl ein Supermodel nennen. 1917 sah der Genfer Maler Albert Schmidt in ihr „La Source“, die Quelle, wie er sein Gemälde betitelte. Und wirklich strahlt blau der Himmel über ihr und blau plätschert ihr zu Füßen Wasser, das erst noch ein Bächlein werden will. Das eigentliche Anliegen des Malers gilt weder der reizvollen Naturschilderung noch der präzisen Grazie seines weiblichen Akts. Was wir sehen, reicht weit über Landschaft und Mensch hinaus: das Bild vom Ursprung. „Wenn man eine Person oder eine Landschaft von den Fesseln der Motive und ihrer Handlungen, der Ursachen und Wirkungen befreit“, schrieb William Butler Yeats 1898, wird Kunst „zu einem Symbol unendlichen Gefühls werden, eines vollkommenen Gefühls, eines Teils der Göttlichen Substanz“.
Annäherung ans Numinose
Die Annäherung an das Numinose, Unbestimmte, der Rationalität nicht Zugängliche war das Ziel der symbolistischen Kunst des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ihren malerischen Zweig ruft die Fondation Pierre Arnaud in ihrer aktuellen Ausstellung „Symbolisme. Sortilèges de l’eau“ wieder in Erinnerung. Die Künstler des Symbolismus schauten nach innen, träumten von antiken Göttern und Halbgöttern, einer erhabene Natur, bevölkert von Medusen, Nereiden und Nymphen, mythischen Fabelwesen wie Sirenen und Melusinen. Sie entdecken fantastische Fischfrösche und eine nicht minder fantastische Frau. Nicht nur jede Quelle, auch jede Welle ist eine Frau.
Der Symbolismus entspringt einem Klima tiefgreifender Umwälzungen, hervorgerufen durch die industrielle und wissenschaftliche Revolution. Zunehmendes Bevölkerungswachstum, steigende Landflucht, Aufkommen des Sozialismus, der Siegeszug von Biologie und Evolutionstheorie, nicht zuletzt die Infragestellung des Ichs und der Rolle des Bewusstseins, wie sie Sigmund Freuds im Jahr 1900 erschienene „Traumdeutung“ anzeigte, werden als Krisensymptome wahrgenommen. Gegen sie und in Abgrenzung zum Materialismus und Positivismus in der Philosophie, vor allem aber zum herrschenden Naturalismus in der Kunst, definiert sich der Symbolismus, dessen wesentliche Eigenschaft nach Jean Moréas in seinem 1886 veröffentlichten Manifest darin besteht „die Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszudrücken“.
Mit Erstaunen bemerkt man im Walliser Bergdorf Lens, wo die Fondation Arnaud vor vier Jahren ihr Ausstellungshaus und Kunstzentrum eröffnet hat (siehe taz vom 6. Januar 2014), wie aktuell die Kunst des Symbolismus ist. Im Kontext eines rückwärtsgewandten und wissenschaftsfeindlichen Populismus, der als großer Abwehrzauber auf die Herausforderungen des globalen 21. Jahrhunderts immer mehr an Zuspruch gewinnt, ist die Begegnung mit dem Symbolismus als spirituelle, esoterisch künstlerische Verklärung der Krisenerfahrung und des Versuchs ihrer Bewältigung zugleich Schock und Erlebnis. Diese Setzung ist der Fondation Pierre Arnaud gelungen.
Und gelungen ist auch die Ausstellung selbst, mit sämtlichen großen Symbolisten wie Fernand Khnoff, Felicien Rops, Gustav Klimt, Alfred Kubin, Max Klinger, Arnold Böcklin oder Gustave Moreau. Sie werden nicht mit ihren großen ikonischen Gemälden gezeigt, dafür mit Vorstudien zu diesen Bildern, mit Zeichnungen und eher unbekannten, kleineren Arbeiten aus Privatsammlungen, die frisch und unverbraucht wirken. Man trifft also durchaus auf das große Gemälde des Symbolismus, auf Arnolf Böcklins berühmte „Toteninsel“, freilich in der Version einer Druckgrafik von Max Klinger, ausgeliehen aus der Bibliothek der ETH Zürich.
Dazu kommen Skulpturen, Möbel und Glasarbeiten, wie etwa die vielfarbigen Vasen des berühmten französischen Kunsthandwerkers Émile Gallé. Zwar gaben sich die Symbolisten antibürgerlich und verabscheuten den schnöden Alltag der naturalistischen Kunst. Und doch waren sie es, die die durchgängige Ästhetisierung unserer Lebenswelt anbahnten und die von den Avantgarden des 20. Jahrhunderts geforderte Verschmelzung von Kunst und Leben.
„Symbolismus – Wasserzaubereien“ ist bis 21. Mai in der Fondation Pierre Arnaud in Lens, Region Crans-Montana, zu sehen. Auf dem Hochplateau fährt man im Winter Ski und spielt im Sommer Golf. Die Region ist auch für die Weine bekannt, die an den Hängen zum Rhonetal angebaut werden. Die Reise nach Lens wurde von Schweiz Tourismus unterstützt.
Auf zwei Stockwerken stellt eine spiralförmig je auf ein Zentrum zulaufende Ausstellungsarchitektur die im Titel benannten Wasserzaubereien des Symbolismus dann in sechs thematischen Kapiteln vor: Traum, Ideal, Mythos, Legende, Allegorie und künstlerische Paraphrase. Letztere lässt mit Fernand Khnopffs Zeichnung „Melisande“ den ganzen Kosmos des Symbolismus aufscheinen. Das Bild entstand, während der belgische Maler die Kostüme zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ (1902) entwarf, die auf dem gleichnamigen Theaterstück (1892) von Maurice Maeterlinck basierte.
Reichtum und Vielfalt sind überhaupt gute Begriffe für den Symbolismus, der alle Kunstgattungen umfasst, sich unterschiedlicher Themen und Materialien bedient und keinen einheitlichen Stil kennt. Der Regenbogen, der die „Insel der Bäume und der Blumen“ des Schweizer Symbolisten Albert Trachsel überwölbt, ist wie das Bild seiner Wasserschlangenfrauen von solch psychedelischer Farbigkeit, dass er dem Age of Aquarius entsprungen scheint.
Wassernixen und Satyren
Böcklins lustige Wassernixen und Satyren dagegen sind zu derb für das Zeitalter des Wassermanns und Edward Burne-Jones Sirenen zu düster. Die stoisch klassizistische Eleganz wiederum der Mondglanz-beschienenen „Harmonie du soir“ oder der hinreißenden Sonnenuntergänge („Poème du soir“ oder „La muse du soir“) der französischen Maler Émile-René Ménard und Alphonse Osbert erscheinen repräsentativ für das Fin de Siècle. Anders der sachlich-moderne Malgestus Albert Schmidts, der so wenig der allegorischen Intention seines Werks zu entsprechen scheint. Dabei verrät seine Darstellung genauso wie Ferdinand Hodlers, aus einer Privatsammlung entliehenes Gemälde „La source“ (1904–10) − ein kraftvoller, unproportionierter Akt, dessen schmaler Oberköper in ein unverhältnismäßig breites Becken und noch stämmigere Beine übergeht − oder die Quelle, die Carlos Schwabe 1903 in rotgoldenes Abendlicht taucht, dass die Symbolisten mehr wussten, als sie ahnten. Denn immer ist ihre Quelle, ihr Ursprung des Lebens die eigentlich zukünftige, moderne Figur der sich selbst genügenden, freien Frau. Kein Mann und kein Kind stört ihr Bild, das sie vollkommen mit sich eins zeigt. Nur Félix Vallotton verstand schon 1897, was da vor sich ging. Seine Quelle, dicht an braunen Erdboden geschmiegt, ist ein weiblicher Narziss, in die Betrachtung seines Spiegelbildes versunken.
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