zwischen den rillen
: Endstation Sehnsucht

Lisa Who: „Sehnsucht“ (Arising Empire/Nuclear Blast/Warner)

Wir befinden uns am Anfang von „Das Rauschen in mir“; es ist der vierte Song des Albums, um das es gehen soll. Ganz langsam setzt eine Kirchenorgel ein, nimmt sich alle Zeit der Welt, indem einzelne Töne endlos gehalten werden. Die Musik baut sich seelenruhig auf. Ein Break erfolgt bei Minute zwei, dann spielt eine Gitarre, es folgt hoher, choraler Sologesang. Nach fünf Minuten, die sanft ins Delirium entgleiten, singt ein heller Sopran: „Du bist für mich wie Schnee/Du funkelst im Licht/Doch meinen Durst stillst du nicht.“ Jetzt erst geht der neunminütige Song richtig los.

Lisa Who heißt die Künstlerin, und es gibt öfters Momente auf ihrem Debüt, wo man sich fragt: Kann sie das so bringen? Geht es gut, oder kippt sie um in Kitsch? Die Anfangsverse im Auftaktsong „Alles ist gut“ lauten etwa: „Wie schön du bist/In der Abendsonne bei 26 Grad/Wie schön du bist/Hast du dir das mal klargemacht?“ Zu allem Überfluss heißt das Album „Sehnsucht“. Lisa Nicklisch, wie sie bürgerlich heißt, hat alle Erwartungshaltungen, die man an eine Musikerin haben könnte, abgestreift. Bislang ist sie als Keyboarderin der nicht gerade innovativen Indieband Madsen in Erscheinung getreten, mit deren Sänger Sebastian Madsen sie zusammen ist (er ist auch Produzent des Albums und singt bei einem Song); außerdem spielt Lisa Who in einem Jazzduo.

Nicklisch ist eine Berliner Pflanze, geboren im Ostteil, nach Ausreise der Familie 1989 im Westteil aufgewachsen. Im Grundschulalter begann sie Keyboard, später Gitarre zu spielen. Seit ihrem 15. Lebensjahr hatte sie Gesangsunterricht. Vor über zehn Jahren begann sie Songs zu komponieren, veröffentlichte bereits einige EPs. Ihr Debütalbum erscheint nun auf einem Sublabel von Nuclear Blast – eigentlich Deutschlands Metal-Schmiede Nummer eins.

So weit, so abenteuerlich diese Konstellation. Aber auch, so gut, so klar, so pur ist dieses Album. Dass es derart retro klingt, ist dabei seine größte Stärke. Psychedelicrock paart sich mit deutschsprachiger Natur- und Liebeslyrik – das hat man, wenn überhaupt, zuletzt wohl so in den Siebzigern gehört, von einer Künstlerin gesungen vielleicht noch nie. Konzeptuell sei der Bezug auf die Siebzigerjahre nicht, erklärt Lisa Who. Sie habe festgestellt, dass „Downtempi, cremige Gitarrenriffs, flirrende Atmosphäre und freie Strukturen“ sie glücklich gemacht hätten. „Sehnsucht“ besteht aus lediglich sechs Songs, zwei davon sind doppelt in verschiedenen Versionen zu hören. Alle basieren auf Keyboard, Gesang und reduzierten Gitarren – da kann es schon ausreichen, alle paar Takte mal einen Gitarrenakkord oder Saiten einzeln anzu­schlagen, gerne auch als Slide­gitarre.

Retro und kontemporär schließen sich auf „Sehnsucht“ nicht aus. Die Atmosphäre ist eskapistisch, Überdruss liegt in den Songs. Nicht viel ist geblieben außer der Liebe und der Musik, und doch schwingt zu keinem Zeitpunkt ein Rückzug in die heile Welt des Privaten mit. Zeilen wie: „Wenn sie tanzt/Wird Frieden neu geboren (…)/ Tanz’/ Tanz’/Denn sonst sind wir verloren“, wirken eher sedierend; sedierend und wie in Zeitlupe wirkt das gesamte Album. Hört man „Sehnsucht“ aufmerksam, löst sich jeder Kitschverdacht auf.

Lisa Who sagt über ihre Songs auf „Sehnsucht“: „­Menschen, die mir zuhören, sollen möglichst für einen Moment nur eine Sache tun: Musik hören! Ohne Handy, ohne Checkliste im Kopf.“ Die gut 40 Minuten Laufzeit sind tatsächlich so etwas wie eine Übung in Sachen Kontemplation – und die erste deutschsprachige Überraschung des Jahres.

Jens Uthoff

Lisa Who live: 3. März, Lichtung, Köln; 4. März, Nachtwache, Hamburg