: Sarkastische Befreiungsschläge
LÄNDERSCHWERPUNKT Aufschlussreich und unterhaltsam: Der „Fokus Mexiko“ auf Kampnagel präsentiert noch bis zum Sonntag eine lebendige, junge Performance-Szene aus einem Land in einer schwierigen Situation

von Robert Matthies
Es ist ein düsteres, hoffnungsloses Bild, das Anabel Hernández vom gesellschaftlichen Kontext zeichnet, in dem Mexikaner*innen heute leben. Seit Jahren recherchiert und schreibt die Investigativjournalistin über die Macht der Drogenkartelle und die Verstrickungen der kriminellen Organisationen mit staatlichen Instanzen, die Rolle von Polizei, Militär und Bürgermilizen – und über die Brutalität des beispiellosen bewaffneten Konflikts, dem in den vergangenen zehn Jahren rund 185.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
Die offizielle Erzählung vom Krieg des sauberen Staats gegen die mächtigen Kartelle sei eine Lüge, sagte Hernández am Mittwochabend zur Eröffnung des Themenschwerpunkts „Kontext Mexiko“ auf Kampnagel, der sich noch bis zum Sonntag mit Vorträgen und Diskussionen, Filmen, Tanz und Performances mit Mexiko als Lebens-, Kultur- und politischem Raum auseinandersetzt.
Tatsächlich stünden die Konfliktparteien sich gar nicht gegenüber, seien Regierung und Kartelle Komplizen, ist Hernández überzeugt: In Mexiko habe sich eine „Mafiokratie“ entwickelt, Politiker ließen sich ihre Kampagnen von Drogenkartellen bezahlen, Drogenkartelle verließen sich im Gegenzug auf die Unterstützung der gekauften Politiker, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Die vermeintlich Guten und die Bösen: ununterscheidbar. Ihre Opfer: alle 123 Millionen Mexikaner*innen.
Umso erstaunlicher ist, wie wenig zynisch die jungen mexikanischen Künstler*innen, die Kampnagel-Dramaturgin Uta Lambertz in den vergangenen zwei Jahren in Mexiko kennengelernt und nun nach Hamburg eingeladen hat, mit der schwierigen sozialen Situation und der alltäglichen Gewalt in ihrer Heimat umgehen.
Düster, das ist zum Beispiel die zum ersten Mal in Europa gezeigte Performance „Horse[m]en“ des Choreografen Jaciel Neri aus dem Centro de Producción de Danza Contemporánea in Mexiko-Stadt durchaus. Hoffnungslos aber ganz und gar nicht, sondern ein überbordender bilderstarker Befreiungsschlag mit jeder Menge sarkastischem Humor, ein Parforceritt durch die mexikanische Geschichte und Gesellschaft.
Anderthalb Stunden kreist die Choreografie um eine eigentümliche Mischung aus Pferd und Mensch, Erobern und Unterwerfen, Führen und Verführen, Dominanz und Befreiung: ein Spannungsfeld, das Neri in eine eigentümliche, entlarvende Bewegungssprache übersetzt. Da reiten stampfend sechs Reiter im Kreis, ihre Unterleiber aber sind schon die Pferde. Genauso gut aber könnte das auch ein traditioneller mexikanischer Volkstanz sein und die Unterleiber statt Pferde Kleider.
Wie sehr sich die typischen Reiter- und Pferdebewegungen in – typisch männlichen – Machthaltungen vom einfachen Macho bis zum Militär wiederfinden, das dekliniert Neri dann in verschiedensten Konstellationen durch. Da kippen Begehren und Gewalt beständig ineinander um, werden Verführungsszenen zu Unterwerfungsszenen, Männer zu Frauen und umgekehrt. Allerlei groteske Bilder entstehen so, die bedrückend und komisch zugleich sind, analytisch und verspielt: eine ebenso aufschlussreiche wie unterhaltsame Dekonstruktion der mexikanischen Seele.
Ganz ähnlich wirkt auch die eigens für das Festival entwickelte Zusammenarbeit von Gintersdorfer/Klaßen mit jungen mexikanischen Künstler*innen: „Antiformaliso. Ein Mexorzismus“ heißt die einstündige Performanceskizze, die nach einem Besuch der deutsch-ivorischen Performancegruppe in Mexiko-Stadt in nur einer Probenwoche entstanden ist.
In kleinen Szenen erzählt der Abend von der Architektur der Macht in der mexikanischen Hauptstadt, vom Sichkennenlernen, dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher (Performance-)Kulturen und vom Sichfreispielen aus einengenden Formalismen, die in den Körpern stecken: die Bühne als Ort, voneinander zu lernen und sich nicht vom Kontext erdrücken zu lassen. Auch das: ungemein unterhaltsam, geradezu heiter.
Drei Premieren sind auch am Wochenende noch zu sehen: Auch die installative Performance „Habitante“ des Choreografen Shanti Vera beschäftigt sich in beklemmenden Bildern mit der Spannung zwischen der von Gewalt gezeichneten sozialen Situation und der Bühne als sicherem Raum und Raum des Widerstandes gegen das gesellschaftliche Chaos. „No soy Persona. Soy Mariposa“– „Ich bin keine Person. Ich bin ein Schmetterling“ heißt die Performance des Choreografen und Kulturanthropologen Lukas Avendaño. Mariposa, das steht in Mexiko vor allem für Homosexualität und queere Lebensformen. Auch in „Réquiem para un alcaraván“ geht es um Geschlecht, Macht und Überschreitung: um die Figur der Muxe in der indigenen Zapotekenkultur und Riten des Übergangs.
„Kontext Mexiko“: noch Sa, 4. 3., und So, 5. 3., Kampnagel
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen