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Roman „Realitätsgewitter“ von Julia ZangeTräumt viel, weint viel & liest Goethe

Die Autorin Julia Zange erzählt von einer Gesellschaft, in der niemand zuviel von sich preisgeben will. Denn das käme einer Schande gleich.

„Ich bin eine Frau aus Berlin. Ich brauche niemanden.“ Foto: Jack+Scott/photocase

Marla hat 1.675 Facebook-Freunde: Künstler, Designer, Modejournalisten, Clubbesitzer. Alle leben nur für den Moment, niemand plant voraus, schon gar nicht den nächsten Tag. Marla schwirrt von Partys zu Dates, alle sind schnell beendet, nirgendwo bleibt sie hängen. Gespräche sind inhaltslos und ohne Bedeutung. Bekanntschaften sind prädestiniert, oberflächlich zu bleiben, denn niemand will seine Ängste offenbaren. Jeder/r bleibt in der eigenen Welt gefangen. Auch Marla. „Ich bin eine unabhängige Frau aus Berlin. Ich brauche niemanden“, ist ihre Devise.

Vieles ist Marla egal. Treue und Familie sind nicht ihr Ding. Sie klaut, nimmt Drogen und pisst in den Hausflur, weil die Toi­lette besetzt ist. Doch zugleich ist sie gar nicht so ein bad girl, wie es den Anschein hat: Sie raucht nicht, träumt viel, weint viel, liest Goethe und Marie von Ebner-Eschenbach. Und sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dem E-Bike eine Fahrrad fahrende Rentnergruppe überholt.

Oft genug fantasiert sie sich in ein anderes Leben, in dem sie verheiratet ist und Arzthelferin, wo sie und ihr Mann nach Feierabend im Poloshirt-Partnerlook Golf spielen. Ein Leben, welches ihr leicht und sicher scheint, in dem sie sich mit Selbstbestimmung und Emanzipation nicht abgeben muss: eins wie das ihrer Eltern. Aber dass ihr das nicht genügt, wird nicht erst nach einem katastrophalen Besuch zu Hause klar.

Tolle Ich-Perspektive

Marla kann ihren Lebensstil weder aushalten noch aufgeben. Mittels einer eindrücklichen Ich-Perspektive verdeutlicht Julia Zange, dass Marla als übermäßig sensible Person in der Ausweglosigkeit einer egoistischen Gesellschaft gefangen ist, obwohl sie sich nach Zuwendung und Halt sehnt. Doch ist die junge Frau so versessen darauf, ihr Leben alleine in den Griff zu kriegen, dass sie jeden anderen Menschen als Bedrohung ihrer Selbstständigkeit empfindet. Weil diese Selbstständigkeit aber ihren Stolz füttert und mehr Kontrolle verspricht, zwingt sie sich zu dem deprimierenden Leitsatz: „Wenn man ein gutes Mädchen ist, lernt man irgendwann, sich auszuschalten.“

Allein einzelne Charaktere haben der Ernüchterung dieses vorläufigen Fazits etwas entgegenzusetzen. Ihre sonst so mit sich selbst beschäftigte Mitbewohnerin Jenna zeigt doch Interesse an Marlas Wohl und kocht ihr in einem Anflug von elterlicher Fürsorge Essen. Und Marla erkennt am Ende, etwas zu abrupt, eine Wahrheit, die sich ihr immer deutlicher aufdrängt: dass zum Glücklichsein andere Menschen gehören und Zuwendung und Interesse verdienen; dass das Leben mit ihnen an Sinn gewinnt.

Zanges Blick ist ungeschminkt. Marlas Überfluss an Sinneswahrnehmungen dokumentiert alle Signale aus der Umwelt. Was sie schildert, wird greifbar. Ohne sich gänzlich mit ihr identifizieren zu müssen, versteht man, wie Marla tickt. So gut, dass man sich beim Zuschlagen des Buchs erleichtert bewusst wird: Man trägt einen eigene Namen, ist nicht Marla.

Das Buch

Julia Zange: „Realitätsgewitter“. Aufbau Verlag, Berlin 2016, 157 Seiten, 17,95 Euro

Dass der Roman so lebensecht wirkt, hätte ihm beinahe selbst im Weg gestanden: Einige Zeit war unklar, ob er weiterhin verkauft werden würde. Im Dezember hatte Zanges Mutter eine einstweilige Verfügung eingelegt, mutmaßlich, da sie Handlung und Charaktere nicht fiktiv genug fand. Doch der Antrag wurde abgewiesen, das Buch bleibt im Handel, und das ist gut so. Die Erzählung wirkt in sich natürlich, was der literarischen Leistung der Autorin zuzuschreiben ist.

Beobachtete Gegenwart

„Realitätsgewitter“ überzeugt auch als Roman über die Gegenwart: die Allmacht des Konsums, Alltagsaggressivität, Homophobie, Nazis, Donald Trump, Brexit, aber auch Obdachlose in der U-Bahn und Schaffner, die kein Englisch können – alles wird beobachtet, wenig wird kommentiert, oft bleibt der Lesende mit angeknabberten Gedanken­häpp­chen alleine zurück. Zange hat nicht den Anspruch, alle Antworten auf dem Silbertablett zu servieren. Das verleiht dem Buch seinen Reiz. Man muss mitdenken.

In ihrem zweiten Roman gelingt der Autorin so das Porträt einer Gesellschaft, in der zu viel von sich selbst preiszugeben einer Schande gleichkommt. Zugleich steht am Ende als blasser Hoffnungsschimmer die Aussicht, dass der Ich-Bezogenheit zu trotzen zwar Anstrengung erfordert, dass man das Leben ohne sie aber besser ertragen kann. Einen Gedankengang, den Marla aus ihrer Metaper­spek­tive prompt als „kitschigen Facebookpost“ kommentiert. Schmunzeln kann sie nämlich auch.

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1 Kommentar

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  • Wenn Julia Zange in ihrem Buch wirklich "das Porträt einer Gesellschaft [zeichnen würde], in der zu viel von sich selbst preiszugeben einer Schande gleichkommt", würde das auch auf mich ziemlich realistisch wirken, denke ich.

     

    Für den Neubundesbürger in mir war schließlich genau das die prägende Erfahrung nach 1989. Anders als im sogenannten Beitrittsgebiet sind Bekanntschaften mit Menschen aus der alten Bundesrepublik oftmals recht oberflächlich geblieben. Inzwischen sind sie allesamt Geschichte. Ich weiß bloß noch, dass all die Leute Angst zu haben schienen, Schwachstellen und Ängste zuzugeben. Als wäre jeder Andere nicht nur ein potentieller Konkurrent, sondern sogar ein potentieller Feind.

     

    Ich wollte nie und will auch nicht so leben. Ich mag mir keine Angst einjagen lassen von Leuten, die die Hosen selbst gestrichen voll haben, sich allerdings nicht trauen, um Unterstützung oder Beistand zu ersuchen. Wieso es ausgerechnet die Verkorksten sind, die ihrem Umfeld unbedingt den eignen, furchtbar demolierten Stempel aufzudrücken wünschen, habe ich noch nie verstanden und werd' es vermutlich auch nicht mehr kapieren.

     

    Ich habe nicht darum gebeten, in eine Gesellschaft integriert zu werden, in der Mütter ihre Töchter vor Gericht bringen, wenn die in ihren Büchern schreiben, was sie umtreibt oder quält. Ich habe keine Eitelkeit, die ich verlieren kann, und keine Zukunftspläne, die man mir verhageln könnte mit ganz gezielt gestreuten langlebigen Gerüchten. Was ich gewinnen würde, wenn ich welche hätte, hat mir bisher auch niemand glaubwürdig erklärt.

     

    Ich habe Menschen zu verlieren. Menschen, die (genau wie ich) alles andere als perfekt sind und die mich auch nur selten zu verstehen scheinen, die allerdings mein Leben sehr viel leichter machen, als es ganz ohne diese Leute wäre. Was Facebook dazu meint, ist mir im Übrigen egal.