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Im Auge der Vorfahren

Tanz In Cesena in Italien fand das Kollektiv Dewey Dell zu einer auffallenden Ästhetik. Die hat nicht zuletzt mit einer alten Bibliothek und uralten Höhlengemälden zu tun. Zu sehen in der Tanzfabrik

Alles geht von den Kostümen aus, auch in „Sleep Technique“ Foto: John Nguyen

von Astrid Kaminski

Cesena ist eine zunächst unauffällig wirkende Stadt, trotz der Renaissance-Architektur. Hier kommt das italienische Theaterkollektiv Dewey Dell von Teodora, Agata und Demetrio Castellucci und Eugenio Resta zum Arbeiten zusammen. Eine Stunde brauchen sie bis ins nördlich gelegene Bologna, 20 Minuten ins südliche Rimini.

Die „Ruhr des Theaters“ wird die Gegend in der Provinz Emilia Romagna genannt. Jede der attraktiven Städte beherbergt zwei bis drei freie Theatermacher – die bekanntesten Namen sind Motus und Romeo Castellucci: Letzterer ist der Vater von Agata, Teodora und Demetrio (sowie von drei weiteren Kindern) und ein Weltstar des Theaters. Kein leichtes Erbe.

Bei den ersten Rezensionen ihrer Arbeit haben die Macher von Dewey Dell geweint. Sie wollen nicht als Epigonen gelten. Dass sie mit ihrem seit 10 Jahren bestehenden Kollektiv nun zum ersten Mal überlegen, ob sie einen Proberaum im Theater Comandini des Vaters umsonst in Anspruch nehmen sollen, und immer noch nicht ja gesagt haben, verstehe der Vater nicht: Er sei doch nicht George Clooney.

Der Hausmeister, der alles gesehen hat

Zum Comandini gelangt man am besten über den zentralen, mit Arkadengängen gesäumten Corso Garibaldi. Ab und zu überholt ein Methangas-Bus oder ein Schwarzer auf einem Fahrrad, das nach einer Spende aussieht. Vorbei geht es am stilvollen städtischen Operntheater, in das der Hausmeister gerne einen Einblick gewährt. Seit 40 Jahren arbeitet er dort, hat alles gesehen. Ganz oben auf der Liste seiner Lieblingsstücke steht der „Faust“ der Peking-Oper.

500 Meter weiter liegt dann das unauffällige Comandini der Assoziation Raffaello Sanzio, die Romeo Castellucci mit seiner Frau Chiara Guidi und seiner Schwester Claudia zusammen gegründet hat, benannt nach einem italienischen Renaissance-Maler. Es ist ein einfaches und gemütliches Freie-Szene-Theater, jedoch längst zu klein für den ausladend arbeitenden Regisseur. Dewey Dell hat nun zum ersten Mal ein Stück dort koproduzieren lassen. Schließlich wohnen zwei seiner vier Mitglieder in Cesena, die anderen kommen aus Berlin und Vilnius dazu.

Angefangen hat das Kollektiv fast als Spiel. Teodora zeichnete Kostüme, Hahn und Skorpion und erweckte sie dann zusammen mit Demetrio (elektronische Musik), mit der gerade mal 14-jährigen Agata (Tanz) und Eugenio zum Leben. Eugenio Resta ist der Älteste der Gruppe, der damals schon Bühnenbild studierte. Aus dem Ausprobieren wurde mehr, auch während ihrer Studien an unterschiedlichen Universitäten entwickelte sich die Gruppe kontinuierlich weiter.

Das Kostüm blieb dabei zentral. Jede der bisherigen Produktionen wird von stark charakteristischen, ins Skulpturale erweiterten Kostümen dominiert, die Tierwelt und Cartoon, Historie und Weltraum miteinander verbinden. Die Kostüme bestimmen sowohl die Biomechanik der Bewegungen als auch den visuellen Eindruck der Arbeiten, angesiedelt zwischen Archaik, Symbolismus und Futurismus.

Der Kollektivname Dewey Dell ist dem Faulkner-Roman „Als ich im Sterben lag“ entlehnt. Es ist der Name einer jungen Frau, die nie spricht. Alles, was sie ausdrücken will, sagt sie durch die Augen. Diesem Motiv folgend, ist Dewey Dells Bühnenästhetik in erster Linie an das Sehen gerichtet.

Auch die jüngste Produktion „Sleep Technique“, die in Berlin von der Tanzfabrik in den Uferstudios gezeigt wird, einem langjährigen Begleiter der Gruppe, entführt wieder in eine sehr eigene Bildsprache. Die grauen und ochsenblutroten Kostüme (Guoda Jaruševiciute) werden durch Schnürungen gehalten, die den Körper in grafische Flächen zerlegen. Auf dem Kopf tragen die Darsteller*innen eng anliegende Kappen, die mittig einen starken Rist haben und deren Ausstrahlung zwischen gallischem Helm, Mittelalter- und Pickelhaube und moderner Undercut-Frisur changiert.

Im kleinen Theater Comandini, in dem Dewey Dell erstmals gearbeitet hat, steht dieser kolossale Kopf Foto: Astrid Kaminski

In dieser kulturgeschichtlich frei kombinierten Montur begeben sie sich, auf der Suche nach „dem Beginn von Etwas“, in die 1994 entdeckte Chauvet-Höhle, deren Höhlenmalereien zu den ältesten der Menschheit gehören. Viel haben sie über die Höhle recherchiert, bevor sie den Raum für die Bühne imaginierten. Sie wollen in ihm nicht nur Betrachtende sein, sondern auch Betrachtete, die sich vorstellen, die Blicke ihrer Vorfahren zu spüren.

In Cesena zeigten sie die Vorpremiere von „Sleep Technique“. Aber nicht nur im Stück wird eine Entdeckungsfahrt zu den Ursprüngen der Kunst vorgestellt, auch die Reise zum Arbeitsort der Company hat etwas davon. Denn die von den Kostümen ausgehende Gesamtkunstwerk-Ästhetik, die teils doch an Romeo Castellucci erinnert, bekommt in der Renaissance-Stadt Cesena darüber hinaus ein Eigenleben, das mit einer größeren Tradition als der des Familienclans in Zusammenhang gebracht werden kann. Vor allem die 1452 gegründete Malatestiana-Bibliothek, die als die älteste im Originalzustand erhaltene humanistische und erste öffentliche Bibliothek überhaupt gilt, hinterlässt, ähnlich wie die Chauvet-Höhle, das Gefühl einer wesentlichen kulturgeschichtlichen Erfahrung.

Die Graffiti der Leser

An den Wänden des großen, nur von Tageslicht erhellten Gewölbes der Bibliothek haben Leser*innen geritzte Graffiti hinterlassen, auch sie sind noch original erhalten. Unmittelbar nebenan besuchten die Dewey Dells das humanistische Gymnasium Vincenzo Monti.

Den Hunger nach Wissen, wie er die Renaissance-Künstler auszeichnete, bezeichnen sie als eine wichtige und frühe Prägung. Und so schaffen sie, angesteckt von einem intensiven Forschungsdrang, in jeder ihrer Produktionen eine Situation, deren thematische, motorische und spirituelle Gesetzmäßigkeiten sie ganz neu herausfordern. Jedes ihrer Bühnenstücke ist daher auch eine kleine Erschaffung der Welt.

„Sleep technique“ läuft in der Tanzfabrik im Wedding, Uferstr. 23., am 25. + 26. 2. um 20.30 Uhr

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