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Archiv-Artikel

Wir müssen reden

Wenn Exlinke über existierende Linke den Kopf schütteln: Wer die Welt verändern will, muss sie in ihrer Bewegung verstehen und aufhören, sich dieser entgegenzustellen. Wer stehen bleibt, hat Unrecht. Das Projekt der Moderne ist noch nicht vollendet

Das Grandiose des Linksseins wardie Lust und das Verlangen, die Weltzu verändern und zu verbessern.Davon ist aber nichts übrig geblieben

VON ULF POSCHARDT

Was für ein Triumph für die Linke. Daniel Richter stand vor mir und strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihm glühte die Wand gleißend rot. „0,9 Prozent, 0,9 Prozent“ johlte er und mimte die Schröder’sche Geste des Wahlabends. Die Hände ineinander gefaltet weit über den Kopf gestreckt wie ein Schwimmer am Startblock aus Salomés Früh-Achtziger-Jahre-Serie. Die Freude galt, bei Nachfragen, weniger dem dann doch eher lausigen Ergebnis von Rot-Grün als dem Nichteintreten der Machtergreifung durch Schwarz-Gelb. Schröders Oppositionswahlkampf, in dem er so tat, als wären Kirchhof und Merkel am Elend des Landes schuld, war auch bei der linken Fraktion der klügsten Köpfe des Landes angekommen.

An einem Punkt hatte Richter Recht: es gibt eine linke Mehrheit im Land, und er war Teil davon. Selten durfte sich sowohl die hoch subventionierte als auch die äußerst markttaugliche Intelligenzija (wie Richter) in ihrem Antikapitalismus mit weiten Teilen der Gesellschaft derart vereint sehen. Die Linke irrlichtert gegen die letzte Einsicht ihres Triumphs: sie sind Mainstream geworden, sie üben Herrschaft aus, dominieren Diskurse und Lehrpläne, haben mächtige Netzwerke und einen massentauglichen Populismus.

Die Begegnung mit Richter war bei einer passenden Gelegenheit. In einer roten Stadt (in einer rot-roten Stadt) inmitten eines der schönsten Gebäude der klassischen Moderne: die (großartige) Immendorf-Ausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie. Kaum einer der über 50-Jährigen, mit denen ich diesen Abend sprechen durfte, konnte es sich verkneifen, davon zu schwärmen, wie schön das damals war in der maoistischen KPD. Der abgewählte Bundeskanzler Schröder hielt eine reizende Rede für seinen „Freund Jörg“. Die aus dem politischen Kontext gerissenen roten Spruchbänder Immendorfs, die Nähe von Macht und Kunst aus alter linker Verbundenheit wirkte wie Strandgut des Zeitgeistes: genossen wurde die Macht, die jene Generation auf allen Ebenen im Land akkumulieren konnte, und ihr letzter Triumph gegen jene bösen Geister der Gegenwart: die Sachzwänge der als teuflisch empfundenen Globalisierung, die die Gemütlichkeit der roten Kulissenstadt hinwegspülen wird wie Wellen eine Zeichnung in den Sand.

Wenn ehemalige Linke (wie ich) nicht aufhören, über die existierende Linke den Kopf zu schütteln, so hat das mit der Biografie, Sozialisation, der intellektuellen Entwicklung und dem daraus gewachsenen Respekt für Triumphe wie Niederlagen linker Theorie und Praxis zu tun. Bis auf die revolutionär antikapitalistische Linke, die sich im Krieg mit den herrschenden Verhältnissen befindet, haben weite Teile der Linken die Sozialromantik der Bonner Republik zu ihrem Ideal werden lassen. Nach der Wahl 2002 deutete sich das Neocon-Verständnis an. Die taz zeigte damals junge Herren im Anzug auf Autodächern und zierliche junge Damen im Kostüm, Steine werfend. Der Ort des Geschehens: Paris, 1968. Überschrift: „Die Elite probt den Aufstand“. Nachdem in der FAZ ein 350-zeiliger „freundlicher Aufruf zur Revolte“, zwei Tage später dann die Aufforderung „Bürger, auf die Barrikaden!“ zu lesen war, wurde deutlich, dass in der Geschichte der Bundesrepublik ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Die Rebellion ist zum Auftrag der Bürger geworden, die antibürgerlichen Rebellen von einst, zur Staatsmacht gelangt, gängeln die neue, unterdrückte Mehrheit. Den Rebellen wird „alarmistische Rhetorik“ und „Panik im Krittelstand“ vorgeworfen.

Wenn Diedrich Diederichsen, das (ganz großartige) Idol aller Denkfreudigen unter 50, den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme als Kerninhalt einer Veranstaltung in der Volksbühne formuliert, verkümmert einst originelles Denken und betoniert Umverteilungsansprüche und Staatsseligkeit. Das hilft niemandem. Zuallerletzt den Schwächsten der Schwachen. Man kann nicht jahrzehntelang den Kapitalismus als Linksradikaler bekämpfen, um dann einzuklagen, dass die zehn Prozent der Bestverdiener möglichst allumfassend soziale Absicherungen finanzieren sollen. Weder moralisch oberlehrerhafter Defätismus noch das Beleidigtsein über den Gang der Geschichte, weder Linksradikalismus noch Antikapitalismus unterstützen Arbeiterinteressen. Selbst die stoischen Gewerkschaften denken um: die jüngsten, Arbeitsplätze sichernden Abschlüsse bei VW widerspiegeln die Interessen der Arbeitnehmer besser als die ideologischen Floskeln vieler unkündbaren Betriebsräte. Und das war erst der Anfang. Die Globalisierung rückt weiter voran – und Kongresse in der (absolut großartigen!) Volksbühne werden sie nicht aufhalten.

Die Neudefinition sozialer Standards ist weniger eine nationale Aufgabe als europäische. Wer will, kann sogar ökologische und soziale Ziele damit verknüpfen. Nur wenn unsere Volkswirtschaft wieder funktioniert, können wir glaubhaft dem Rest der Welt vermitteln, dass es Sinn macht, hohe soziale Standards zu pflegen. Dazu müssen Wahrnehmungsdefizite gegenüber unappetitlichen Sachverhalten eliminiert werden. Unvergesslich der Augenblick, als mir ein führender PDS-Politiker erklärte, dass er seine Wählerklientel irgendwann mit der Realität des „Sozialhilfemissbrauchs“ konfrontieren müsse. Das war noch bevor die reaktionären Gewerkschaftskader mit der WASG den letzten Funken Vernunft und Pragmatismus aus der parlamentarischen Linken vertrieben haben.

Deutschland braucht Wachstum. Die Linke tönt zu oft, dass es dies nicht gibt. Das ist Unfug. Es gibt gerade für ein so hoch entwickeltes, reiches Land wie Deutschland Entwicklungspotenzial für wegweisende Ingenieurskunst mit implantierten Nachhaltigkeitsgedanken. Länder wie England oder Dänemark haben es vorgemacht. Davon sprechen wir zu wenig. Wie sieht das Land aus, in dem wir leben wollen? Ist es nicht eine Chance, mit Bildung und Forschung möglichst vielen Menschen qualifizierte Jobs anbieten zu können? Wenn mir vorgeworfen wird, das Bürgerliche zu ästhetisieren, so ästhetisiere ich darin vor allem den Lebensstil von Verantwortungs- und Leistungseliten: jenen, die mit Mut und Risiken Dinge versuchen, mitunter scheitern, mitunter aber auch hunderten und tausenden Arbeitsplätze verschaffen. Wir brauchen mehr von ihnen, nicht weniger.

Dieses bürgerliche Milieu hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Angela Merkel hat aus der Union eine andere Partei gemacht: verglichen mit diesen Umwälzungen erscheinen die vermeintlich linken Parteien verstockt und unbeweglich. Junge liberale und bürgerliche Politiker passen mitunter nur schwer in die Raster alter Feindbilder, auf die sich bei Rot-Rot-Grün immer noch einige verlassen. Einige, nicht alle. Dass die Bürgerlichen selbst erst am Anfang ihrer Modernisierung stehen, ist den Schlauesten unter ihnen bewusst: die Kulturrevolte wird auch die Mentalität der Wirtschaftseliten durcheinander schütteln. Wenn die amerikanische Vanity Fair jedes Jahr das „New Establishment“ vorstellt, wird deutlich, dass das Establishment keine konservative, sondern eine permanent revolutionäre Konzeption geworden ist.

Wenn ich das Grandiose des Linksseins richtig verstanden habe, dann war es stets getragen von der Lust und dem Verlangen, die Welt zu verändern und zu verbessern. Dazu gehörte eine Analyse der Gegenwart, ein Verständnis der Vergangenheit und eine Vorfreude auf die Zukunft. Von der Bloch’schen „Ästhetik des Vorscheins“ ist nichts übrig geblieben. Das frühe und vollkommen lustlose Scheitern der Jamaika-Koalition ist auch Resultat eines archaischen Frontenverlaufs innerhalb der Gesellschaft, für den nicht zuletzt auch Kulturschaffende und Intellektuelle mitverantwortlich sind. Es ist dies auch unser Scheitern. Junge Grüne, Liberale und auch JUler (jawohl) verbindet mehr als jene Folklore, die sie trennt.

Thea Dorn hat zu Recht darauf hingewiesen, dass im Menschen- bzw. Staatsverständnis große Schnittmengen zwischen linken und liberalen Ideen bestehen, dass aber gleichzeitig ein Millieutrauma vorherrscht, dass „alle – außer den Linken – dumpfe, katholische, saumagenfressende, homohassende, rassistische, frauen-hinter-den-herd-prügelnde Neandertaler sind“. Weitere Schisma: die Westbindung. Der Antiamerikanismus, verschwistert mit dem Antikapitalismus, unselig verwandt mit dem Antisemitismus, markiert ebenfalls eine Bruchstelle. Da ist die Linke den Erzreaktionären wie Hohmann und von Stahl nahe. Darüber müssen wir reden.

Der Punkt ist: Deutschland könnte das modernste Land werden. Es könnte wegweisend in Forschung und Kultur sein, es könnte aufgrund seines hohen Wohlstandsniveaus soziale Gerechtigkeit mit einer Pflege der Eliten versöhnen. Meine Lieblingsidee: in den schwierigsten Vierteln der Großstädte werden die besten Schulen installiert. Die besten Lehrer werden landesweit an jene Brennpunkt-Schulen geschickt. Eine Art Wettbewerb mit dem Bundespräsidenten als Schirmherr und vielen Medien als Partnern macht aus diesen Lehrern Popstars gesellschaftlichen Engagements. Beispielhafte Karrieren aus dem Getto mit Leistungswillen und Ehrgeiz wären die Folge. Symbolpolitisch würde es den sozialen Zusammenhang zwischen Elitenförderung und sozialer Gerechtigkeit liefern. Wir sollten gemeinsam werben für mehr Zuwanderung, für mehr kulturelle Vielfalt, für jede Form von Toleranz und Hilfe zur Selbsthilfe.

Die Rolle des Intellektuellen muss uneitel konstruktiv sein. Er muss sich – so weit dies möglich ist – als den beweglichsten, agilsten und dynamischsten Teil der Gesellschaft verstehen, falls diese wie in Deutschland sich selbst im Wege steht. Er muss dieser vorauseilen (ja, die gute alte Idee der Avantgarde) und er muss die Bewegungen der Gesellschaft, wenn sie in die richtige Richtung gehen, beschleunigen und nicht bremsen. Dazu wäre zu klären, ob der Weg zu weniger Staat, mehr Selbstverantwortung und mehr Innovation auch ein gemeinsames Ziel sein könne und ob der Befund, dass zu viel Nostalgie und Bedenkenträgerei das Linke entstellt haben, von dieser auch geteilt wird. Und wenn es zumindest von Teilen so wahrgenommen wird, wie sich dies im Verhältnis der Linken untereinander auswirkt.

So brillant sie mitunter sind: die Köpfe der Linken sollten sich nicht in minoritärsten Themen, abseitigen Radikalismen oder schlimmer noch wie in Negri/Hardts „Empire“ in quasi mystisch-esoterischen Utopien erschöpfen. Die Linke als Retrogarde ihrer eigenen Ideengeschichte bedeutet einen Rückfall in das frühe 19. Jahrhundert. Aus der Linken würde dann eine rechtshegelianisch pessimistische Fraktion nationaler Sozialisten. Das Projekt der Moderne ist nicht vollendet: es steht Anfang des 21. Jahrhunderts vor den größten Problemen – aber auch vor den größten Chancen. Der Tod der Linken wäre ihr Bestehen auf den Problemen – aus Angst vor den Risiken aller Chancen.

Ulf Poschardt war Chefredakteur des SZ-Magazins, Mitglied der Chefredaktion der Welt am Sonntag und entwickelt gerade ein neues Magazin