Raoul Peck über die Arbeit an zwei Filmen: „Alles basiert auf der Realität“

In Deutschland spürte er die gläserne Decke. Raoul Peck über seine Wut auf die Wirklichkeit und die Helden seiner neuen Filme: Marx und James Baldwin.

Stefan Konarske und August Diehl drehen sich - beide mit Zylinder auf dem Kopf - dem Betrachter zu

Ob auch Stefan Konarske und August Diehl vor den Dreharbeiten das „Kapital“ von Marx studiert haben? Foto: © Kris Dewitte

taz: Herr, Peck, in einem Interview haben Sie darauf verwiesen, dass „I Am Not Your Negro“ kein Film über den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin ist, sondern einen über dessen Bedeutung als Figur des öffentlichen Lebens. Könnten Sie das …

Raoul Peck: … meine Idee war, den ultimativen Baldwin-Film zu drehen. Ich habe Baldwin gelesen, als ich sehr jung war, und er hat mein Leben verändert – so wie Marx einige Jahre später. Ich konnte nicht hinnehmen, dass er in den letzten 20 Jahren zunehmend vergessen wurde. Für mich ist er ein großer Philosoph und einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller.

Wie sind Sie dann weiter vorgegangen?

Ich habe die Rechte an allem, was Baldwin geschrieben hat, angefragt. Normalerweise macht man das nicht, aber ich musste es tun, weil ich schlicht nicht wusste, wie der Film werden würde, und ich mir die Zeit geben wollte, das herauszufinden. Als ich die Rechte dann hatte, musste ich auch dem gerecht werden, was Baldwin getan hat, in einer Zeit, in der es gefährlich war, das zu tun. Wenn man ihn in den Fernsehaufnahmen sieht, wie er in einer der bekanntesten Sendungen der Zeit (der „Dick Cavett Show“, Anm. taz) Dinge sagt, die man heute nicht mehr sagen könnte, dann kann man keinen Film machen, der dahinter zurückfällt. Der Film entstand Schicht um Schicht, ich habe Teile hin und her geschoben, wieder von vorne angefangen, zwei Monate andere Projekte wie den Marx-Film verfolgt und mich dann wieder daran gesetzt. Insgesamt hat der Prozess zehn Jahre gebraucht.

Sie haben auch gesagt, Baldwin habe Worte für Dinge gehabt, die Sie damals gerade erst gefühlt hätten, er habe Ihnen einen Weg gezeigt, die Realität zu analysieren und – wo nötig – zu dekonstruieren. Gilt das für Sie als auch für Marx?

Ganz genauso. Ich habe Baldwin mit etwa 17 gelesen und Marx als ich 19, 20 Jahre alt war. Als ich mein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin anfing, musste man eine Vorstellung von Marx’ Theorie mitbringen, um in politischen Debatten ernst genommen zu werden. Ich hatte dann das Privileg, für etwa zehn Jahre an der Freien Universität Berlin Seminare zu Marx’ „Kapital“ zu besuchen, die mein Leben verändert, mir die Analyseinstrumente gegeben haben, die ich heute noch benutze. Ich habe in meinem Denken zwei Standbeine: Das eine ist Marx und das andere ist Baldwin.

Und wie unterscheiden sich die beiden für Sie?

Sie ergänzen einander. Beide hatten die Idee, dass sich das menschliche Dasein sowohl individuell als auch kollektiv entwickeln müsse. Beide blicken auf die größeren Zusammenhänge und lassen in der Analyse weg, was nicht relevant ist. Beide befassen sich mit der Realität. Für mich als jemand, der schwarz ist, aus der Dritten Welt kommt, in Europa und Amerika aufgewachsen ist, hat das eine Perspektive auf die Welt eröffnet.

geboren 1953 in Port-au-Prince, ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Fotograf. Er studierte in den USA, Frankreich und an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin.

War diese Erfahrung der Grund, nach dem Studium in Berlin aus Deutschland wegzugehen?

Wenn ich in Deutschland geblieben wäre, wäre ich nicht derselbe Filmemacher geworden. Ich habe gefühlt – und das war einer der Gründe wegzugehen –, dass es in Deutschland für mich eine gläserne Decke gibt: Ich konnte meinen Abschlussfilm drehen und wurde dabei unterstützt, aber beim zweiten fingen sie an, mich abzustrafen. Ich wollte einen Film über den Selbstmord von Kemal Altun drehen. Es gab damals große Demonstrationen in Berlin wegen des Selbstmords dieses jungen Mannes aus der Türkei, der abgeschoben werden sollte. Die Förderung für den Film wurde damals mit der Begründung abgelehnt, dass der Bezug zu Deutschland nicht erkennbar sei. Für mich war das eine Art Berufsverbot. Danach habe ich beschlossen wegzugehen.

Sie müssen nahezu parallel an „I Am Not Your Negro“ und „Der junge Karl Marx“ gearbeitet haben. Gab es während der Arbeit eine Verbindung zwischen den Projekten?

In meinem Kopf ganz sicher. Vor allem aber war es immer eine Erleichterung, von einem Projekt zum anderen zu wechseln. Andere Leute machen Urlaub, ich mache ein anderes Projekt. Die Arbeit am Marx-Film war zudem etwas anders als die an „I Am Not Your Negro“, weil ich einen Koautoren hatte: Pascal Bonitzer ist Regisseur wie ich und hat parallel an seinen eigenen Filmen gearbeitet. Wir sind immer wieder für zwei Wochen irgendwohin gefahren und saßen am Drehbuch. Zwischen den verschiedenen Entwürfen vergingen mehrere Monate, bevor wir uns mit neuem Material wieder drangesetzt haben.

Und bei „I Am Not Your Negro“?

Da war es ähnlich, aber diesmal mit dem Schnittmeister und dem Archivrechercheur, dem Filmmusiker und dem Tricktechniker. Wir haben Entwürfe gemacht und Listen mit möglichen Materialien. Ich hatte die Materialien immer auf einer Festplatte dabei und habe dem Schnittmeister Clips geschickt, die ich ausgewählt hatte, und ihn gebeten, sie aufzuheben. So entstand Schicht für Schicht der Film. Je länger dieser Prozess geht, desto mehr versteht man, was der Film in etwa werden könnte. Bis es schließlich klick! machte und alle Teile an ihrem Platz waren.

Eine der schönen Schichten des Marx-Films ist, dass sie schwarze Charaktere in die Handlung eingeflochten haben – in einer Szene mit dem Anarchisten Proudhon kommen Sie selbst die Treppe herunter. Mir scheint, das gibt dem Film einen eigenen Spin.

Für mich ist es wichtig, dass man im Film ist und ihn zugleich von außen sieht, um Distanz zu schaffen und Raum zum Nachdenken zu geben. Anders als im Hollywoodkino will ich, dass die Zuschauer mit mir in der Geschichte sind, aber zugleich über die Geschichte nachdenken, die sie sehen. Absurderweise war es nahezu unmöglich, schwarze Komparsen zu finden. Ich hätte gerne noch viel mehr Schwarze im Film gehabt. Aber das Casting hatte keine Ahnung, wie – und das war kein Rassismus, es war ihnen einfach egal. Wenn man einen Kostümfilm dreht, dann sucht das Casting vielleicht nach einem besonderen Gesicht, aber niemand denkt daran, dass es in Paris unzählige schwarze Seeleute, Zimmerer und so weiter gab. Ich musste darum regelrecht kämpfen.

Bei beiden Filme ist auffällig, wie zugänglich sie trotz aller Komplexität der Form sind. Mehr noch als in den meisten Ihrer anderen Filme gibt es in diesen beiden so etwas wie eine Propaganda der Reflexion.

Worauf Sie sich eventuell beziehen, ist, dass alle meine Filme auf der Realität basieren. Das ist es, was mich umtreibt: die Absurdität, die Ungerechtigkeit der Wirklichkeit, die Wut, die diese Wirklichkeit auslöst, und mein Wille, Machtstrukturen jeder Art herauszufordern. In den beiden aktuellen Filmen hatte ich das Gefühl, zurück zu den Grundlagen zu müssen, den Grundlagen von allem anderen. Dieses Mal habe ich mein Hirn auf den Tisch gelegt.

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