: Gründungsmythos Schweiz
Anspruchsvolle Solo- und Chorpartien und das hohe C des Tenors. Das Gelsenkirchener Musik–theater im Revier wagt sich an Gioacchino Rossinis selten gespielte Oper „Guillaume Tell“
AUS GELSENKIRCHENFRIEDER REININGHAUS
Den Theatergängern bescherte die Oper erstmals das hohe C des Tenors. Der Komponist hat es nicht notiert und fand es lächerlich. Denn es erinnerte den passionierten Koch an den „Schrei eines Kapauns – während man ihm die Gurgel umdreht“. Aber dieser hohe Ausstoß der Männlichkeit hat sich nun einmal eingebürgert und auch Tenor Christopher Lincoln bleibt es in Gelsenkirchen nicht schuldig. Dort wird Gioacchino Rossinis Oper „Guillaume Tell“ gespielt, die wegen ihrer überaus anspruchsvollen Solo- und Chorpartien nur noch selten auf die Bühne gebracht wird, wohl auch wegen des ihm eingeschriebenen allzu massiven Freiheitspathos. Das Musiktheater im Revier hat das doppelte Wagnis unternommen.
Das Solistenensemble um Jee-Hyon Kim, der Chor- und Extrachor und die Neue Philharmonie Westfalen unter Leitung von Samuel Bächli haben die technischen Herausforderungen des Werks erstaunlich gut bewältigt. Anrührend intensiv gelingt der gertenschlank-aristokratischen Regine Hermann (Mathilde von Habsburg) das große Trio mit der besorgt-bürgerlichen Mutter Hedwige Tell (Anna Agathonos) und Sohn Jemmy, der brillant und kess-naivisch die Hosenrolle bestreitenden Claudia Braun. Rossinis letzte Oper wurde am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1830 begünstigt durch ein Klima, in dem Themen wie Freiheit und Unabhängigkeit Konjunktur hatten.
Das Stück wurde von seinen Autoren weithin im Freien angesiedelt. Der Regisseur Andreas Baesler ließ es vom Ausstatter Kaspar Zwimpfer zunächst vor ein Postkartenfoto vom Vierwaldstätter See rücken, dann aber bald und andauernd in einen modifikationsfähigen Innenraum, der an schweizerische Autobahnraststättenarchitektur erinnert. In ihr wird mit dem Symbol des Apfels gespielt, der ja nicht weit vom Baume fällt, durch Tells Geschoss genau in der Mitte getroffen wird, Evas Verführungssymbol bleibt und, ganz vordergründig, einer bodenständigen Genossenschaft die Ernährungsgrundlage verschafft. Die Kostüme von Gabriele Heimann deuten die totalitär gestimmten 1930er Jahre an.
Die Übertragung in den Innenraum, den die Handlanger der totalitären Macht theaterwirksam demolieren, bringt es mit sich, dass Tell den Hirten Leuthold nicht über den See in Sicherheit vor seinen Verfolgern bringen kann, sondern mit ihm durch den Gully ab in die Freiheit rauscht. Auch das Vergewaltigungs-Ballett, bei dem sich die Soldateska Bauernmädchen von den kleinen Tribünen im Geviert greift, und das Fuchteln der Herren des Chors mit Karabinern deutet Baeslers Willen zu einer modifizierten Aktualisierung der alten Geschichte an. Insbesondere auch beim vierten und letzten Finale. Das wölbt sich auf und gebiert eine Apotheose der Freiheit, die auf weit mehr als auf die Ereignisse in den Bergen am Vierwaldstätter See am Ende des 13. Jahrhunderts zielt: Auf alle bürgerlich-demokratische Freiheit und weit über die Belange eines historischen Bergvölkchens.
Gerade auf die aber bezieht der Regisseur mit milder Ironie sein Schlußbild: da ziehen riesige Schweizer Fahnen zur Zentenarfeier auf, strömen EU-Befürworter aus auf den in halber Höhe der Bühne verlaufenden Umgang und einer hält ein Schild hoch: „Isch voll!“ So wird das heute unerträglich vollmundig wirkende Freiheitspathos am Ende doch noch auf eine sehr nahel iegende Weise konterkariert.
So, 02.10., 18:00 UhrInfos: 0209-4097200