Medienlandschaft in der Türkei: Vogelfrei
Nirgends ist die Presse so frei wie in der Türkei. Die Medien berichten, was und worüber sie wollen – solange es auf Regierungslinie ist.
„Weder in Europa noch in anderen Ländern sind die Medien so frei wie die Presse in der Türkei.“ So pflegt der türkische Präsident Tayyip Erdoğan der Kritik des Westens an der türkischen Regierung zu entgegnen. Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ dagegen beantwortet Fragen zu Pressefreiheit und inhaftierten Journalisten, indem er anmerkt: „Niemand sitzt im Gefängnis, weil er seinen Job als Journalist gemacht hat“. Wer Berichte macht, die der Regierung nicht passen, wird ohnehin als Terrorist verhaftet.
Beide haben recht, denn die AKP-Regierung hat sowohl die Pressefreiheit als auch den Journalismus neu definiert – auf eine ihr genehme Weise. Erdoğan hat nicht nur den Staatssender TRT unter seine Kontrolle gebracht, er hat sich durch einen von AKP-nahen Geschäftsleuten eingerichteten Fonds beinahe aller Medien bemächtigt.
Abgehörte Telefongespräche, die 2014 an die Öffentlichkeit gelangten, belegen genau dies. Demnach sorgte Erdoğan persönlich dafür, dass verschiedene Unternehmer, die zuvor nie mit Medien zu tun hatten, in einen gemeinsamen Topf einzahlten und die Bildung der regierungstreuen sogenannten Pool-Medien ermöglichten, die heute die öffentliche Meinung beherrschen.
Gemeinsam mit diesen Medien, die einseitig regierungsloyal berichten, besteht die türkische Medienlandschaft heute mehrheitlich aus Zeitungen und Fernsehsendern, die Propaganda für die AKP machen. Wiederum gemäß den 2014 veröffentlichten Telefonmitschnitten war es der damalige Verkehrsminister und heutige Premierminister Binali Yıldırım, der das AKP-Projekt der Medien-Gleichschaltung leitete.
arbeitet als freie Journalistin für Hörfunk, Fernsehen und Kinoproduktionen. Außerdem schreibt sie für türkische Tageszeitungen sowie Nachrichtenportale.
Medienmonopol auf Erdoğans Anordnung
Die Mitschnitte belegen, dass die Inhaber der Konzerne, zumeist aus dem Bausektor, nicht daran interessiert waren, in das unprofitable Mediengeschäft einzusteigen, Erdoğan sie aber nötigte, und zwar persönlich. Unwillige wurden an Ausschreibungen erinnert, die ihnen zugeschanzt worden waren oder noch werden würden.
Neben den auf Erdoğans Anordnung gebildeten Pool-Medien sind in der Türkei vor allem die Zeitungen Sabah, Yeni Şafak, Türkiye, Güneş, Akşam, Star, Takvim, Yeni Akit, Haber Türk, Milliyet und Vatan auf Regierungslinie.
Bei den Fernsehsendern sind es ATV, A Haber, TGRT, 360, Beyaz TV, Kanal 24, Kanal 7, Ülke TV, TV Net, Star TV, NTV, Show TV, Habertürk, e-2, Bloomberg HT und alle Sender der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt TRT. Alle diese Sender werden auch in Deutschland empfangen, wo viele Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben.
Auch Deutschland fällt in die Gruppe der „Verräter“
Diese Medien sind in ihrer Programmgestaltung frei. Für sie sind alle, die die Regierung unterstützen, Patrioten, alle anderen sind Vaterlandsverräter. Auch Deutschland und Europa fallen in die Gruppe der Verräter oder gar der intriganten Gegner. Kürzlich veröffentlichte die Zeitung Yeni Şafak etwa einen Bericht, in dem der Deutschen Bank die Schuld am Rekordabsturz der türkischen Lira zugeschrieben wurde.
Die These lautete, die Deutsche Bank fordere Devisenkredite von Exportfirmen vorzeitig zurück und übe damit Wirtschaftsterror aus. Für den Bericht wurde die Deutsche Bank nicht einmal nach ihrer Sicht der Dinge gefragt.
Zuvor hatten regierungsnahe Zeitungen wochenlang einen jungen Deutschen, der bei Kämpfen in Syrien in den Reihen der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) gefallen war, als BND-Agenten hingestellt. Ebenso wurde behauptet, eine deutsche Umweltstiftung stecke hinter den Kundgebungen von Dorfbewohner*innen in der ostanatolischen Provinz Artvin, die gegen den geplanten Bau eines Bergwerks protestiert hatten. Die Liste ist lang.
Kurz, was Erdoğan sagt, stimmt, die Medien in der Türkei sind freier als in Deutschland und anderen europäischen Ländern. So frei, dass sie schreiben, was sie wollen, auch wenn es nicht den Tatsachen entspricht oder erfunden ist. Dafür müssen sie sich weder verantworten, noch werden sie bestraft.
Inhalte verbreiten sich über soziale Medien
Gibt es denn gar keine Medien, wie wir sie verstehen? In der Türkei ist Berichterstattung, so, wie wir sie in Deutschland kennen, schlichtweg unmöglich. Entweder wird man im Rahmen der ausgedehnten, durch den Ausnahmezustand geregelten Kompetenzen gleich festgenommen, darf tagelang nicht einmal einen Anwalt sehen und sitzt Monate in Untersuchungshaft, ohne dass auch nur eine Anklageschrift vorgelegt wird. Oder man sitzt ohnehin bereits hinter Gittern.
Als im vergangenen Oktober die Sender IMC TV, Hayatın Sesi, zahlreiche Radiosender und Agenturen geschlossen wurden, verblieben in der Türkei nur noch vier etablierte Tageszeitungen, die oppositionelle oder kritisch berichten: Evrensel, BirGün, Cumhuriyet und Yurt. Die auch in Deutschland bekannte Hürriyet und ihr Mutterhaus, die Doğan-Gruppe, sind bemüht, in den zugehörigen Fernsehsendern nichts zu bringen, was die Regierung verärgern könnte. Auf Druck wurden dort viele Journalist*innen entlassen.
Aufgrund der jungen Bevölkerung in der Türkei sind das Internet und die sozialen Medien als Nachrichtenquelle von großer Bedeutung. Ereignisse, über die insbesondere regierungsnahe Medien niemals berichten würden, verbreiten sich über soziale Medien. Der Twitteraccount @Dokuz8Haber beispielsweise, der sich als „auf Bürgerreporter konzentriertes Netz von Freiwilligen“ definiert, ist zwar nicht sehr schnell, aber zuverlässig in seiner Berichterstattung. Spezielle Nachrichten veröffentlichen sie auch auf ihrem Blog. Ähnliche Nachrichtenquellen sind 140 Journos, die Nachrichten über soziale Netzwerk verbreiten oder die Webportale Diken und soLHaber.
Das mit einem fähigen Autorenstab im letzten Sommer an den Start gegangene Nachrichtenportal gazeteduvar.com.tr legt seinen Schwerpunkt jenseits aktueller Berichterstattung auf Analysen und Einschätzungen. Zu den Autoren gehören unter anderem der investigative Journalist Fehim Taştekin, Karin Karakaşlı, Schriftstellerin und Journalistin, sowie Celal Başlangıç, der seit Jahren aus den kurdischen Regionen berichtet.
Auch Medyascope.tv, der seit einigen Jahren Web-TV über Periscope anbietet, gehört zu den Erfolgsmodellen der letzten Jahre. Mit dem erfahrenen Journalisten Ruşen Çakır an der Spitze sendet das Projekt seit einigen Monaten sogar ein regelmäßiges Nachrichtenprogramm. Der Schwerpunkt liegt auf Diskussionen und Analysen.
„Dieser Journalist macht Terrorpropaganda…“
In der Türkei, wo Fernsehen das meistkonsumierte Medium ist, erreichen die zuvor genannten Medien allerdings nur wenige Tausend Menschen. Und die Journalist*innen, die für die ohnehin raren Internetportale und Nachrichtenagenturen arbeiten, sind wegen der tagtäglich gegen sie eröffneten Terrorismusverfahren gezwungen, sich mehr um ihre Prozesse, als um die Berichterstattung zu kümmern.
Journalist*innen, die auf freiem Fuß sind und ihrer Arbeit nachgehen wollen, werden von regierungsnahen Medien und deren Kolumnisten zur Zielscheibe gemacht und in der Folge häufig verhaftet.
Auch im Ausland lebende Journalist*innen sind von solchen Attacken betroffen. Ein Gespräch in der Sendung „Medienkritik“ auf TGRT, in der angeblich neu aufgetauchte Videos vom Putschversuch vom 15. Juli kommentiert wurden, zeigte kürzlich, wie systematisch bei solchen Angriffen vorgegangen wird. Der Dialog zwischen Moderator und Studiogast verlief in etwa so:
Moderator: Mir fiel ein Tweet über das Militär auf. Die in Deutschland lebende freie Journalistin Elmas Topçu hat ihn geteilt. „Über 25 türkische Offiziere, die im NATO-Hauptquartier Norfolk Dienst taten, haben in den USA Asyl beantragt.“
Gast: Wer ist diese Elmas Topçu, ist sie PKK’lerin?
Moderator: Nein, eine linke Journalistin.
Gast: Steht sie auf „der Liste“, die du mir per Mail geschickt hast?
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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