Berlinmusik: Im Haushalt und im Netz
Inspiration findet man theoretisch überall. Die einen blicken sehr weit nach draußen, für die anderen genügt, was vor Augen ist. In der Küche etwa. Was man dort an Geräten angesammelt hat, taugt nicht nur für häusliche Verrichtungen, man kann mit ihnen auch Musik machen.
Der Cellist Ansgar Wilken, früher bei der Bremer Postrockband Ilse Lau, inzwischen Wahlberliner, nutzt in seiner Musik sein Instrument genauso wie Töpfe und Besteck, um ihnen Klänge zu entlocken und in eine fast meditative Ordnung zu bringen. Laut und wild geht es dabei nicht zu, eher gesammelt und konzentriert. In der Regel trennt er auch zwischen Solo-Cello und Haushaltsensemble.
Auf seiner EP „Thank You“ gibt es eine Reihe von Miniaturen, um die zwei Minuten lang, in denen er seinen Kosmos auffächert. Beginnt „Jesu mein“ mit Liegetönen von – vermutlich – einem Harmonium und Glissandi ungeklärter Herkunft, vielleicht vom Cello, vielleicht auch aus einem elektronischen Apparat, klopft und raschelt es auf „Skyskraper Situationism“ vernehmlich aus der Küche, grundiert von tiefen, stoischen Bässen. „Johann von Außen heute“ ist ganz kontemplative Arpeggien-Studie auf dem Cello.
Zwischen diese in sich ruhenden Einheiten streut Wilken Dialoge auf Französisch oder Japanisch, vermutlich aus Filmen. Die gezielte Auswahl für jedes einzelne Stück wirkt stets so bewusst, dass sich aus der Gesamtheit ein vielleicht nicht restlos in sich geschlossenes Ganzes, aber so etwas wie ein stimmiges Bild ergibt. Schön auch, dass Abstraktion und Geräusch bei Wilken friedlich neben Harmonie und dezenter Melodie koexistieren können.
Den Blick weiter nach außen richtet die New Yorker Saxofonistin und Komponistin Anna Webber auf ihrem in Berlin mit dem Simple Trio eingespielten Album „Binary“. Inspiration fand Webber in den Weiten des Internets, nahm Strukturen und Zahlenordnungen, denen sie dort begegnete, als Anfangsmaterial für ihre Kompositionen, die sie gemeinsam mit dem Pianisten Mat Mitchell und dem Schlagzeuger John Hollenbeck erarbeitete.
So hat die Reihe „Rectangles“ ihren Ursprung im YouTube-Testkanal „WebDriver Torso“, für „Impulse Purchase“ verwendete Webber ihre eigene IP-Adresse. Nach Internetmusik klingen die Ergebnisse jedoch nie, sondern nach eckig-energischem Jazz auf der Höhe der Zeit, eigenwillig und, ja, eingängig.
Tim Caspar Boehme
Ansgar Wilken: „Thank You“ (Meudiademorte)
Anna Webber’s Simple Trio: „Binary“ (Skirl Records)
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