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Archiv-Artikel

Den Glamour zurückgewinnen

KAMPFSPORT Der Ruf des Boxens ist nicht der beste. Dabei handelt es sich um einen zwar harten, aber ehrlichen Sport. Als solchen lehrt ihn auch Bülent Calikiran im eigenen Weddinger Studio, Erwachsenen sowie Kindern

Boxen im Kiez

Eine der außergewöhnlichsten und glamourösesten Veranstaltungen der Stadt geht am Freitag in die vierte Runde: die Kreuzberger Kiezboxgala im Festsaal Kreuzberg hatte einst als Experiment zur Rettung des fairen Boxsports gestartet und ist mittlerweile aus Berlin nicht mehr wegzudenken. Wie oft hat man schon mal die Gelegenheit, einem Boxkampf aus nächster Nähe beizuwohnen? Mit einer Übertragung im Fernsehen hat die Live-Atmosphäre nämlich eher wenig zu tun. Sechzehn Kämpfer aus dem Kiez treten im Ring gegeneinander an. Für ein knallhartes musikalisches Programm sorgt, neben DJ Craft von K.I.Z., der Elektropunk Rummelsnuff mit seinen modernen Arbeitsliedern. Was darf sonst nicht fehlen? Die Nummerngirls natürlich. Als solche spazieren die beiden eleganten Burlesque-Ladys Coco Clownesse und Rosi Riot durch den Ring.

■ Skalitzer Str. 130, Freitag 20 Uhr. Eintritt: 18 Euro

VON JENS UTHOFF

Die Ober- und Unterschenkel sind gedehnt, Strecker und Beuger auch. Die Kids streifen die Handschuhe über, zum Teil so groß wie ihre Köpfe. Bülent Calikiran weist seine Schüler an: „Links, rechts, Leberhaken“, sagt er und boxt dabei in die Luft. „Die Leber sitzt rechts“, gibt er den Schützlingen zur Orientierung mit auf den Weg. Dann fliegen die kleinen Fäuste im großen Gewand. Ein Schlag mit der Linken, einer mit der Rechten, der dritte in Richtung des Organs. 21 Kinder und ein Trainer bekriegen sich auf blauen Gummimatten. Und haben Spaß dabei. „Mehr Fäuste, mehr Fäuste“, fordert Bülent seiner Kontrahentin Maya ab. Die schlägt ihn begeistert in den Bauch.

Calikiran betreibt ein Kampfsportstudio mitten im Wedding. Seit neun Jahren lehrt der 46-jährige Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hier Kickboxen, Thaiboxen und klassisches Boxen. Auch zum Krafttraining kann man in die Taykan Sportsarena, so der Name des Studios, kommen. „Das Auspowern ist sehr wichtig für alle, die hierherkommen. Irgendeinen Ausgleich braucht jeder, ob jung oder alt“, erklärt Calikiran. Der gebürtige Berliner trainiert zehn Kämpfer im Profi-Kickboxen, insgesamt betreut er etwa 70 Schüler. Das Training findet in Gruppen statt. Die Kids heute sind zwischen 6 und 14 Jahren alt.

Der Ruf des Boxens ist nicht der beste, ganz gleich, welche Disziplin. Die einen mögen immer noch an übertriebenes Männlichkeitspathos denken, andere an schmutzige Hinterzimmerdeals und korrupte Kampfrichter. Menschen wie Calikiran zeigen, dass diese Stereotype nicht immer zutreffen, schon gar nicht im Amateurbereich. „Beim Boxen lernt man wie bei anderen Sportarten auch, Stärkere zu akzeptieren und Schwächere zu respektieren“, erklärt der Coach. Harter Sport, ehrlicher Sport, echter Sport – das war Boxen einmal, und das soll es wieder werden. Fünf von Calikirans Kämpfern treten bei der Kiezboxgala im Festsaal Kreuzberg am Freitag an – auch dort versucht man, ein wenig von dem Glamour zurückzugewinnen, den die Hiebe mit den Fäusten einmal ausmachten.

Maya Kauffmann grinst, als das Sparring mit ihrer Kontrahentin beendet ist. Sie nimmt ihren Mundschutz heraus. Die Elfjährige kommt seit einem guten Jahr zu Calikiran. Sie hat gerade ein Jugendturnier absolviert. „Das war aufregend!“, sagt sie und strahlt. Ihre Bilanz: einmal gewonnen, einmal verloren. Die Mitschüler in der Schule wüssten oft nicht so genau, was dieses Kickboxen eigentlich sein soll. Maya darf beim Kickboxen, im Gegensatz zum klassischen Boxen, auch mit den Füßen Treffer landen. Beim Kick- und Thaiboxen wird zudem nicht so viel geklammert. So nennt man es wenn man das „Umarmen“ des Gegners zur Erholung nutzt. „Kick- und Thaiboxen ist spektakulärer“, sagt Coach Calikiran.

Dass es nichts für Zartbesaitete ist, wissen aber auch Mayas Mitschüler: „Die Jungs denken ja immer, Mädchen müssten so“ – Maya macht eine Geste und lächelt affektiert – „halt so weich sein.“ Sie aber genießt ihren Draufgängersport. Vorher war sie beim Reiten, das war nichts für sie. Ihr Vater ist froh, dass sie zum Kampfsport gekommen ist: Der Boxfan steht direkt neben den Matten und beobachtet die Bewegungen des Sprosses minutiös. „In den letzten Jahren sind immer mehr Frauen gekommen“, sagt der Trainer seiner Tochter. Und die Frauen nutzten das Boxen nicht nur zur Selbstverteidigung oder zum Fitbleiben – sondern vermehrt, um sportliche Erfolge zu sammeln.

Zu Calikiran kommen die unterschiedlichsten Leute. „Ich habe viele Nationalitäten hier, alle Schichten“, sagt er, „das reicht von der Assistenzärztin über den Jura-Studenten zum Polizisten.“ Ein Training im Taykan-Studio wirkt familiär. Eltern sitzen am Rand und schauen fasziniert zu, wie sich zwei Sechsjährige bearbeiten: Sie wanken, aber sie fallen nicht. Nebenan stemmen zwei Stammgäste Gewichte. Man trifft sich und quatscht. Über die Kämpfe des letzten Wochenendes, über die Kinder. Zweimal im Monat sind Calikirans Schützlinge in etwa bei Turnieren.

Calikiran ist der soziale und pädagogische Aspekt des Boxens wichtig. Harun etwa war einer dieser „schweren Jugendlichen“, wie er sie nennt. „Ein Bekannter von mir ist mit ihm zu mir gekommen“, erzählt Calikiran. „Der hat mir gesagt, wenn der so weitermache, komme der irgendwann ins Gefängnis.“ Das Kickboxen habe ihn ausgeglichener und ruhiger gemacht, sagt Harun selbst. Was es ihm bedeutet? „Puh … viel!“, sagt der 19-Jährige. Immer, wenn er einstecken muss, lerne er dazu. „Sobald ich den Treffer spüre, weiß ich, ich habe meine Deckung vernachlässigt.“ Am Freitag im Festsaal wird Harun wieder in den Ring steigen. „Da gehört viel Mut dazu“, sagt er.

Training bei Calikiran bedeutet aber nicht Kuschelkurs. Der Coach ist selbst sehr ehrgeizig, fiebert bei den Kämpfen seiner Schützlinge mit. So ist das Training knallharte Arbeit. Wer sich verletzt hat, macht so lange weiter, bis es nicht mehr geht. Manchmal wird der deutschtürkische Trainer laut: „Wo ist die Trefferfläche? Das hab ich euch gerade erzählt – und ihr macht’s schon wieder falsch. Ich will keinen mit der Innenhand boxen sehen!“ Lehrsätze wie diese trichtert er schon den Sechsjährigen ein. Auf dass aus ihnen mal große Kämpfer werden.