Paradoxien erforschen

Tanztheater Zeiten der Unruhe: „nicht schlafen“ des belgischen Choreografen und Regisseurs Alain Platel gastiert im Haus der Berliner Festspiele, mit Musik von Gustav Mahler und auch aus Kinshasa. Es erzählt von Gemeinschaft und ihren Außenseitern

Was Kampf und Gemeinheit war, wird Spiel und Berührung im Stück „nicht schlafen“ Foto: Chris Van der Burght

von Katrin Bettina Müller

Seit das Tanztheaterstück „nicht schlafen“ von Alain Platel im September 2016 bei der Ruhr­triennale herauskam, ist es auf Tour. In 20 Städten wurde schon gespielt, 24 weitere Stationen in Europa folgen bis Juli 2017. Der belgische Choreograf gehört zu den meistgebuchten und erfolgreichsten Tanztheatermachern der Gegenwart, und das jetzt schon seit mindestens zwei Jahrzehnten – obwohl sich viele seiner Stücke unter Außenseitern bewegen, von düsteren Situationen erzählen. Manchmal sentimental, manchmal pathetisch, meist aber von einer überschwappenden Dynamik, die den Zuschauer mitreißt in den Strom widersprüchlicher Gefühle und herausfordernder Situationen.

Auch „nicht schlafen“ führt an einen dunklen und zunächst kalten Ort. In Wollmützen und langen Mänteln tauchen die neun Performer (acht Männer und eine Frau) zuerst nur als Schatten auf und schauen auf die erstarrten Leiber toter Pferde, die ihre steifen Beine in die Luft strecken. Diese Skulptur von der belgischen Bildhauerin Berlinde De Bruyckere, die das Bühnenbild entworfen hat, erinnert an die Schlachtengemälde des 19. Jahrhunderts und an das Interesse der Künstler, dem Tod und dem Schmerz ein naturalistisches Bild zu geben. Auf diese historische Sphäre und eine Zeit großer Spannungen spielt auch die Musik an, in die der Komponist Steven Prengels neben vielen Geräuschen wie Kuhglocken und dem Schnauben von Tieren immer wieder Motive von Gustav Mahler schneidet. Die Sehnsucht nach Verschmelzung und nicht aufzulösende Konflikte sind in dessen Musik nebeneinander präsent.

Energische Unterwerfung

Es gibt einen kurzen Moment, wenn die Tänzer sichtbar werden, da denkt man ob der Kleidung vielleicht an Obdachlose oder wegen einer vermuteten Vielfalt der Herkünfte an Flüchtlinge, aber diese Assoziation verwischt sich bald wieder. Unheil liegt in der Luft, oft, und findet in aggressiven Schüben Ausdruck, wenn die Tänzer einander angreifen, wegdrängen, niederringen und die Kleider vom Körper reißen. So kämpfen Verbitterte, in die Ecke Gedrängte. Die Fetzen von Hemden und Hosen fliegen ins Publikum. In einer späteren Kampfszene ist dazu das Schnauben von Pferden zu hören, und Elie Tass hat die Spannung von deren animalischer Energie in die Bewegung seines Halses und die Unruhe der Füße übernommen bei der Unterwerfung eines anderen Tänzers.

Das Bild aber verändert sich ständig: Was gerade noch Kampf und Gemeinheit war, wird Spiel und Berührung. Wenn die Motive von Gustav Mahler dominieren, fließen die zerfransten Einzelaktionen in Ensemble-Tänzen zusammen, kurzfristig formiert sich Gemeinschaft, aus der dann mit großer Virtuosität Einzelne wieder ausbrechen. Dario Rigaglia, aus Sizilien und mit seinen 21 Jahren der jüngste Tänzer im Ensemble, und Samir M’Kirech (aus Frankreich), wirbeln in Pirouetten und gedrehten Sprüngen wie die Ballettprinzen über die Bühne. Russel Tshiebua und Boule Mpana, Musiker, Sänger und Tänzer aus Kinshasa, bringen polyphone Gesänge ein. Wenn sich der Rhythmus ihrer Körper unter Mahler schiebt und beides über eine Strecke mit ungewohnten Akzenten parallel zu funktionieren scheint, ist das wie die Entdeckung einer neuen Kommunikationsform. Das Soundscape von Herden und Hirten erzeugt zusammen mit manchen der Aktionen Bilder von Archaik, die aber konsequent von albernen Szenen im Hintergrund unterlaufen werden. Mahler trägt die einen Tänzer hinweg, die anderen kämpfen gegen das überwältigende Moment der Musik. Platel wird dazu im Programmheft zitiert: „Diejenigen Tänzer, die sich besonders eng an Mahlers Musik halten, sind eher in der Lage, ein Gefühl von Distanz und Befreiung zu vermitteln. Die Tänzer, die sich Mahler widersetzen, erscheinen weniger frei.“ Das ist eine der Paradoxien, die das Stück erforscht.

Platels Tänzer sind keine Darsteller festgeschriebener Rollen. Wer hier die Technik des Balletts beherrscht, lässt etwa auch durchblicken, dass er vom Breakdance kommt. Sie schaffen es, die Kunst als etwas zu betreiben, das sie sich erobert haben, deren Bedeutungsproduktion sie aber auch mit Zweifel gegenüberstehen. Taugt diese Sprache, wie weit reicht ihr historischer Horizont, wen erreiche ich damit? Diese skeptische Grundfarbe teilt Platel mit anderen flämischen Theatermachern seiner Generation. „nicht schlafen“ ist kein Stück der Selbstbestätigung.